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Rische

© Rückeis

Rentenpräsident Rische: "Sozialhilfe ist für Notfälle da"

Rentenpräsident Rische erklärt, warum man 25 Jahre lang für eine Rente auf Sozialhilfeniveau arbeiten muss.

Herr Rische, wie lange muss ein Durchschnittsverdiener in Deutschland arbeiten, damit seine Rente später über der Grundsicherung liegt?

Ungefähr 25 Jahre.

Man muss also 25 Jahre lang arbeiten, um etwas zu erhalten, das man auch geschenkt bekommen würde? Verstehen Sie den Frust der Menschen?

Nein, den verstehe ich nicht. Wir reden in unserer Gesellschaft immer über Eigenverantwortung und darüber, dass jeder versucht, seinen Lebensunterhalt selbstständig zu bestreiten. Und plötzlich tut man so, als ob alle Welt auf Sozialhilfe aus ist. Ich glaube nicht, dass jeder auf Sozialhilfe spekuliert. Das scheint mir nicht das herrschende Lebensbild in unserer Gesellschaft zu sein.

Aber warum sollte jemand 25 Jahre lang in die Rentenversicherung einzahlen, um später nicht mehr als Sozialhilfe zu bekommen? Das lohnt sich doch überhaupt nicht.

Ich frage mal anders herum: Wie viel muss man denn in ein anderes System einbezahlen, um auf eine Rente in Höhe der Grundsicherung – also von rund 660 Euro im Monat – zu kommen und gleichzeitig gegen Erwerbsunfähigkeit geschützt zu sein, Anspruch auf Rehabilitation und den Zuschuss zur Krankenversicherung zu haben und seine Hinterbliebenen abgesichert zu wissen? Es wird im Moment suggeriert, dass die Einzahlungen in die Rentenversicherung überflüssig sind. Ich kann nur sagen, woanders zahlt man für denselben Schutz mehr.

Viele Menschen finden das Altersvorsorgesystem ungerecht. Zum Beispiel bei der Riester-Rente. Erst lockt die Regierung die Leute dazu, später werden ihnen die Auszahlungen von der Grundsicherung abgezogen. Wer private Vorsorge betreibt, wird bestraft. Ist das gerecht?

Dann müssen Sie auch sagen: Jeder, der arbeitet und mehr als den Sozialhilfesatz verdient, tut etwas Überflüssiges, weil er das Geld auch über die Sozialhilfe bekommen könnte. Was unterstellt man denn hier für ein Menschenbild? Es ist doch nicht so, dass jeder nur auf staatliche Transferzahlung aus ist und glaubt, ihm entgeht etwas, wenn er die nicht bekommt. Sozialhilfe ist für Notfälle da. Außerdem gibt es die Grundsicherung nicht unbegrenzt. Wenn Sie darauf spekulieren, müssen Sie in Kauf nehmen, dass Sie auch nach dem Einkommen Ihres Ehepartners gefragt werden, nach Immobilien und sonstigen Einnahmen.

Aber Menschenbild hin oder her. Schmälert die Debatte um die Grundsicherung nicht die Bereitschaft, privat vorzusorgen?

Ich will das nicht ausschließen. Gerade deshalb frage ich mich ja, warum wir diese Debatte überhaupt führen. Das ist doch wie „Geiz ist geil“, nur übertragen auf andere Bereiche. Ich halte es für unverantwortlich, einem jungen Menschen vom „riestern“ abzuraten, weil er vielleicht einmal auf die Grundsicherung angewiesen ist.

Vielleicht wird die Debatte ja auch deshalb geführt, weil das Unbehagen an der gesetzlichen Rentenversicherung wächst. Und weil den Menschen langsam klar wird was die Rentenreformen der letzten Jahre für sie bedeuten …

Das Gewicht der gesetzlichen Rentenversicherung ist zurückgefahren worden. Die Menschen leben länger, das führt zu zusätzlichen demografischen Lasten. Um die nicht nur auf die Beitragszahler zu verteilen, geht das Leistungsniveau der Rentenversicherung zurück. Das war Konsens unter allen Regierungen. Mit der Riester-Rente hat man eine Förderung geschaffen, mit deren Hilfe Arbeitnehmer die Kürzungen ausgleichen können.

Wer sind die Verlierer der Reformen?

Jeder muss heute privat oder über seinen Betrieb vorsorgen, um seinen Lebensstandard im Alter halten zu können. Das kostet natürlich Geld. Außerdem muss man nun auf einiges verzichten, was früher in der Rentenversicherung enthalten war. Wenn wir über Altersarmut sprechen, müssen wir auch an die Erwerbsunfähigen denken. Das ist eine Gruppe, die teilweise geringe Renten hat und sich schwer tut, eine zusätzliche Privatversicherung oder betriebliche Absicherung zu finden.

Experten der OECD kritisieren, dass das deutsche Rentensystem nicht armutsfest ist. Haben sie recht?

Der Kampf gegen die Armut ist in Deutschland nicht bei der Rentenversicherung angesiedelt, sondern bei Sozialhilfe, Grundsicherung und Arbeitslosengeld II. Man muss auf diese Systeme schauen, wenn man über Armut spricht. Außerdem muss man sich fragen, wo die Armutsgrenze liegt. Liegt sie bei 660 Euro, dem gängigen Wert in der Grundsicherung, oder ist das zu niedrig? Falls man von höherem Bedarf ausgeht, müsste man über eine Erhöhung der Sozialhilfe sprechen – mit allen Folgen. Unser Rentensystem dagegen ist nicht auf Umverteilung angelegt. Bei uns richtet sich der Rentenbeitrag nach dem Einkommen. Je nach Höhe der gezahlten Beiträge bekommt man später eine Rente. Das hat sich bewährt. Im Moment gibt es kaum Rentner, die auf Grundsicherung angewiesen sind.

Das kann sich aber ändern …

Ja. Altersarmut droht nicht heute, aber sie kann sich entwickeln. Die Lösung kann aber nicht in einem Systemwechsel liegen, hin zu einer Grundrente oder was sonst noch vorgeschlagen wird. Man muss vielmehr analysieren, welche Gruppen künftig von Altersarmut betroffen sein werden.

Und wer ist das?

Zum Beispiel die sogenannten Solo- Selbstständigen, die zwar selbstständig arbeiten, aber keine Angestellten haben. Die sind nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert. Hier ist das Risiko hoch, dass sie später auf Grundsicherung angewiesen sein werden.

Wollen Sie die Selbstständigen in die Rentenversicherung holen?

Ja. Ich bin für eine Pflichtversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung, allerdings mit flexiblen Lösungen für Existenzgründer und Ausnahmen für Selbstständige, die bereits anderweitig abgesichert sind. Die zweite Gruppe sind die Langzeitarbeitslosen. Für Hartz- Empfänger müssen wieder höhere Rentenbeiträge abgeführt werden.

Wer Hartz IV bekommt, erwirbt derzeit einen monatlichen Rentenanspruch von 2,19 Euro. Selbst wenn man den auf 4,38 Euro verdoppeln würde, bringt das doch nichts.

Natürlich muss man als erstes versuchen, mit Arbeitsmarktreformen die Menschen wieder in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu bringen. Aber man muss doch auch während der Zeit der Arbeitslosigkeit dafür sorgen, dass die Betroffenen Rentenanwartschaften erwerben. Wir reden also nicht über vier Euro, da muss schon ein bisschen mehr herauskommen. Und den dritten Bereich haben wir alle unterschätzt, das ist der Niedriglohnbereich. Wenn man über diese Problematik diskutiert, dann sollte man auch darüber sprechen, was das für die Rentenversicherung bedeutet.

Viele Niedriglöhner landen im Alter bei der Grundsicherung. Bereichern sich die Unternehmen, die Niedriglöhne zahlen, auf Kosten der Steuerzahler?

Ja, und das gleich zwei Mal. Wer lange zu Niedriglöhnen arbeitet, kann später ein Fall für die Grundsicherung sein. Wenn man Kombilöhner einbezieht und die Menschen, die zwar Vollzeit arbeiten, aber ohne ergänzendes Arbeitslosengeld II nicht über die Runden kommen, wird die Zeit der Erwerbstätigkeit über Steuermittel subventioniert und später der Ruhestand über die Grundsicherung noch einmal.

Würden Sie in diesem Zusammenhang Mindestlöhne als hilfreich empfinden?

Ob Mindestlöhne gut wären, kann und will ich nicht entscheiden. Aber eines ist sicher: Wenn wir zu viele geringfügige Einkünfte haben, werden wir mehr für die Grundsicherung ausgeben müssen.

Die OECD empfiehlt den deutschen Rentenversicherern, in die Schweiz zu gucken. Was machen denn die Eidgenossen besser?

Sie haben eine stärkere Umverteilung. Natürlich könnten wir auch Beiträge bis zur Höhe des versteuerbaren Einkommens erheben, nicht mehr nur bis zu einer Beitragsbemessungsgrenze, und die Rentenleistung nach oben begrenzen. Aber dann hätten wir keine Beitragsäquivalenz mehr. Dann würden wir die Höherverdienenden stärker am System beteiligen als die Geringverdiener und Durchschnittsverdiener. Ich glaube nicht, dass das in unserem Land akzeptiert würde. Im Übrigen ist die unterschiedliche Leistungsfähigkeit bei uns im Steuersystem berücksichtigt. Vielleicht kann man ja über diese Schiene noch mehr machen.

Viele sagen: Unser Rentensystem funktioniert nicht mehr richtig. Es gibt immer mehr Menschen mit Brüchen in ihrem Erwerbsleben, und die sind nicht mehr abgesichert.

Richtig ist: Es wird künftig Personengruppen geben, die vielleicht nicht ausreichend abgesichert sind. Über die haben wir vorhin gesprochen. Aber die Behauptung, dass das System insgesamt nicht funktioniert, würde ich daraus nicht ableiten wollen. Wir haben das System in der Vergangenheit immer wieder an die veränderten Rahmenbedingungen angepasst, das werden wir auch künftig tun. Und die Frage ist ja auch immer: Gibt es ein System, das besser funktioniert?

Da gibt es Vorschläge. Etwa den des Wirtschaftsökonomen Bert Rürup. Er empfiehlt, zumindest langjährig Versicherten die Minirenten so aufzustocken, dass sie über der Grundsicherung liegen. Was ist denn dagegen zu sagen?

Zunächst müssen wir ermitteln, welche Gruppen besonders von Altersarmut bedroht sind. Hier müssen wir nach Lösungen suchen. Und danach sehen, ob es nötig ist, noch mehr zu tun. Ich halte zum jetzigen Zeitpunkt nichts davon, über eine Sockelrente nachzudenken. Das Geld würde nur mit der Gießkanne verteilt. Die wirklich Betroffenen würden allenfalls am Rande mit profitieren.

Die Grundrente bekämen alle Versicherten, egal wie bedürftig sie sind?

Ich habe große Probleme mit Lösungen über Steuermittel, wenn wir den ersten Schritt noch nicht gegangen sind, nämlich die Absicherung möglichst vieler Menschen über die gesetzliche Rentenversicherung. So weit sind wir noch nicht. Rürup hat eine Möglichkeit angestoßen, aber es ist nicht der Königsweg. Schon gar nicht zurzeit.

Können Sie absehen, wie stark die Renten in diesem Jahr steigen?

Ich kann das jetzt noch nicht absehen. Wir müssen die Ergebnisse für 2007 abwarten, die Zahlen dürften im März vorliegen. Jetzt ist es noch verfrüht, darüber zu spekulieren.

Selbst wenn diesmal mehr drin ist: Die Inflation wird den Rentnern alle Erhöhungen wieder wegfressen und ihnen noch weniger übrig lassen als vorher …

Die mageren Rentenerhöhungen der letzten Jahre beruhten darauf, dass auch bei den Erwerbseinkommen nicht viel dazugekommen ist. Das Realeinkommen ist, die Inflationsrate eingerechnet, eher gesunken als gestiegen. Es gab also auch nicht mehr an die Rentner zu verteilen. Außerdem war es politisch gewollt, dass das Rentenniveau sinkt.

Die wieder besser gefüllte Rentenkasse weckt auch Begehrlichkeiten bei den Beitragszahlern. Sehen Sie einen Spielraum für Beitragssenkungen?

Ich gehe davon aus, dass das Gesetz erfüllt wird. Wenn wir wieder 1,5 Monatsausgaben als Reserve haben, müsste man den Beitrag senken. Das ist frühestens 2010, wahrscheinlich erst 2011 der Fall. Klar, in Wahlkampfzeiten gibt es diese Diskussion. Aber angesichts der derzeitigen Unsicherheit in der Weltwirtschaft stellt sich schon die Frage, ob es so weitergeht mit unseren guten Einnahmen. Vielleicht sind wir ja bald froh über jeden Euro, den wir gespart und nicht gleich ausgegeben haben.

Gibt es eigentlich noch Gutverdiener, denen die gesetzliche Rentenversicherung allein reicht? Oder kommt inzwischen niemand mehr ohne Zusatzvorsorge aus?

Das hängt davon ab, wie Sie selber Ihren Lebensstandard definieren. Ich meine: Jeder tut gut daran, zusätzlich zur gesetzlichen Versicherung vorzusorgen. Ich kann übrigens auch die Riester-Rente empfehlen. Das ist ein gut gefördertes Produkt. So ein gutes Geschäft macht man mit anderen Produkten nicht immer.

Das Gespräch führten Heike Jahberg und Rainer Woratschka. Das Foto machte Thilo Rückeis.

ZUR PERSON:

ERFAHRUNG

Herbert Rische ist zwar erst seit Oktober 2005 Präsident der Deutschen Rentenversicherung. De facto aber ist der 60Jährige als Rentenchef ein alter Hase. 14 Jahre lang stand er zuvor an der Spitze des Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA). Und mit dem Sozialrecht beschäftigt er sich seit

30 Jahren.

ZURÜCKHALTUNG

Der gebürtige Passauer führt seine Behörde mit knapp 25 000 Beschäftigten unspektakulär und skandalfrei. Dabei hat der Jurist mit der Fusion von Arbeiter- und Angestelltenversicherung gerade erst eine gewaltige Reform hinbekommen.

LEIDENSCHAFT

Wirklich politisch äußert sich Rische nur selten und ungern. Was nicht bedeutet, dass er den Generationenvertrag nicht leidenschaftlich verteidigt – etwa gegenüber den vermeintlichen Vorteilen privater Sicherungssysteme.

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