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Reportage: Angegriffen, bis heute: Überlebende aus dem World Trade Center

Sie waren bei einem Seminar im World Trade Center, als es knallte, und sie überlebten. Mit ihren Erinnerungen.

Von Katrin Schulze

Gerannt ist er. Weit weg von dem Ort, an dem alles über ihn hereinbrach. Und dann noch viel weiter. Er konnte fliehen aus der Stadt, er war ja kein New Yorker. Den Erinnerungen an den Tag, an dem er Todesangst spürte und Menschen sterben sah, aber ist er auch in Florida nicht entkommen. Bis heute jagen ihn die Bilder dieses einen Tages, an dem die Welt in ihren Grundfesten erschüttert wurde. Und bis heute sieht er sich nicht imstande, noch einmal wiederzukommen in die Stadt der Anschläge. Weil es ihn innerlich ruinieren würde, glaubt Alan Silva.

Sein Gesicht hat sich in den zehn vergangenen Jahren nicht verändert, so wie auch die Erinnerung stehen geblieben ist. Schmal ist es mit weichen Zügen und hoher Stirn, nur die Haare sind grauer geworden. Und vielleicht seine Augen ein bisschen kleiner. Skeptisch blicken sie auf die Vergangenheit, die er vor sich ausgebreitet hat. Ein Album liegt auf dem Schreibtisch seines Arbeitszimmers in Sarasota, der Stadt, in der der damalige US-Präsident George W. Bush von den Anschlägen erfuhr, während er Kindern in einem Klassenraum beim Vorlesen lauschte. Hier, im friedlichen Florida hat Silva, heute 67 Jahre alt und Rentner, erst alles über diesen einen verheerenden Tag gesammelt und es danach sofort wieder vergraben wie ein Eichhörnchen seine Nüsse.

Nur ganz selten buddelt er die Erinnerungsfetzen aus, weil er die Bilder so schwer ertrage, sagt Silva. Die Titelseite der „New York Times“ vom 12. September steckt im Album, und ein paar Seiten weiter klemmt der Besucherausweis für das World Trade Center; gültig bis zum 27. September des Jahres 2001. Gleich dahinter klebt ein Foto, das Alan Silva vor seinem Hotel in der achten Straße zeigt, als die Welt noch in Ordnung ist.

Die Sonne erwärmt die Stadt an jenem Morgen, ein schöner New Yorker Spätsommertag soll es werden, prognostiziert das Newsfernsehen, bevor Silva sein Hotelzimmer verlässt. Mit seinen beiden Kollegen Robert Cimetta und Daniel Hoffe macht er sich um kurz nach sieben Uhr auf den Weg zum World Trade Center. Es ist der zweite Tag einer dreiwöchigen Schulung, für die das Bankhaus Morgan Stanley die drei Mitarbeiter aus Sarasota eingeflogen hat. Im 61. Stock des Südturms trennen sich die Kollegen: Schönen Tag noch. Bis dann zum Abendessen.

Der Banker Alan Silva entkam den einstürzenden Türmen, den quälenden Bildern aber entkam er nicht.
Der Banker Alan Silva entkam den einstürzenden Türmen, den quälenden Bildern aber entkam er nicht.

© Katrin Schulze

Der ganz große Geschäftsbetrieb ist da noch nicht angelaufen. Dass der Nordturm um 8.46 Uhr von einem Flugzeug skalpiert wird, hört Alan Silva am anderen Ende des Südturms nicht, er spürt es nicht, er sieht es auch nicht. Sein Kollege Daniel Hoffe sieht unendlich viele Zettel, die an seinem Fenster vorbeiflattern, aber er ist zu weit unten, um sich erklären zu können, woher sie stammen. Aufgeschreckt werden beide erst, als der Feueralarm losfiept und kurz danach eine Ansage durch die Räume tönt: „Bitte verlassen Sie das Gebäude.“ Runter geht’s, runter, nur runter. Solange, bis ein paar Minuten später die nächste Durchsage durchs Gebäude knackt: „Der Südturm ist sicher. Bitte gehen Sie auf Ihren Arbeitsplatz zurück.“ Ja, was denn nun?

Während Hoffe trotzdem nach unten geht, weil ihm die Angelegenheit zu unheimlich wird, nimmt Alan Silva den nächstbesten der insgesamt 104 Aufzüge und surrt wieder nach oben bis in den 44. Stock, wo er umsteigen muss in den nächsten Fahrstuhl.

Sicher haben sie sich gefühlt, die Menschen in den beiden mächtigen New Yorker Gebäudekomplexen. Nach der Bombenexplosion im Jahr 1993 sind Millionen von Dollar in die Sicherheit des World Trade Centers gesteckt worden, doch an Flugzeugattacken dieser Kategorie hatte niemand gedacht. Mehr als 2700 Menschen lassen infolge der Terroranschläge am 11. September in den je 110 Stockwerken ihr Leben. Wer es hinausschafft, bevor die Stahlkonstruktionen sich der Erschütterung ergeben, der schleppt die Geschichte mit sich herum. Für einige wie Alan Silva wird sie zur Last – zu einer Qual, von der viele Überlebende von Katastrophen berichten. Das Glück, überlebt zu haben, hängt für sie untrennbar zusammen mit dem Schuldgefühl. „Ich habe sehr viel Zeit mit der Frage verbracht, warum ich überlebt habe“, sagt Silva. „Warum ich? Warum nicht ein anderer?“

Er hat gelernt, sich zu beherrschen, wenn er über all das spricht. Er nimmt sich Zeit dafür, redet langsam und macht zwischendurch Pausen, aber er kann alles am Stück loswerden – noch vor ein paar Jahren wäre das undenkbar gewesen. Die Psychotherapie hat im Bunde mit dem Abstand zur Katastrophe geholfen. „Die Leute sagen immer, Zeit heilt die Wunden, da ist etwas dran“, sagt Alan Silva. Dass ihm manchmal, wenn es um Einzelheiten geht, dennoch die Tränen in die kleinen dunkelbraunen Augen schießen, das zu verhindern haben auch die zehn Jahre, die die Verwundung nun her ist, bisher nicht geschafft.

Dieses eine Detail zum Beispiel. Wer um 9.03 Uhr in einem der Fahrstühle steckt, auf die Silva gewartet hat, ist verloren. Es ist der Moment, in dem Marwan al Shehhi eine von ihm und vier weiteren Terroristen entführte Boeing 767 von United Airlines ins Gebäude steuert und den Südturm des World Trade Centers, New York, die USA, ins Wanken bringt. Silva hält den Einschlag für eine Bombenexplosion. Oder ein Erdbeben. Der Turm vibriert, seine Scheiben zerspringen, bissiger Rauch kriecht in die Flure. Und im 44. Stock werfen sich die Menschen in der Lobby vor den Fahrstühlen so schnell, wie sie nur können, auf den Boden. Alle, bis auf Alan Silva. Warum er einfach stehen bleibt, weiß er nicht, ein Instinkt muss es sein, der ihm befiehlt, sofort loszulaufen. Runter, runter, schnell runter, ruft er den anderen noch zu. Doch schnell geht hier nichts.

Drei Leute. Mehr können im engen Treppenhaus des Centers nicht nebeneinanderlaufen, und in jedem Stockwerk strömen neue Massen dazu. Auf dem Weg in die Freiheit entledigen sich die Männer ihrer Schlipse, die Frauen ihrer High Heels. Die Rettung aus dieser Höllenschlucht hängt nun auch von der Geduld und dem Fitnesszustand jedes Einzelnen ab. Als eine beleibte Frau aufgeben will, weil sie keine Puste mehr hat, greifen ihr zwei Männer, einer links, einer rechts, unter die Arme und setzen den Fluchtstrom Richtung Ausgang wieder in Gang.

Daniel Hoffe hat in den ersten paar Wochen nach den Anschlägen oft davon geträumt, wie er, einige Stockwerke tiefer als Silva, im überhitzten und stickigen Treppenhaus des World Trade Centers nach unten hetzt. Und wie eine sonderbare Mischung aus Schweiß, Schreien, Tränen und laut vorgetragenen Gebeten ihn begleitet. Die Träume sind weniger geworden, mittlerweile beinahe ganz verschwunden. Aber auch zehn Jahre später packt ihn der Gedanke noch, und dann wird auch seine solide aufgebaute Fassade von den Erinnerungen erschüttert. „Etwas in mir wird immer versuchen, aus diesem Gebäude zu kommen“, sagt er und wirkt für den Moment an den Gedanken gefesselt. Sein Blick schweift ab, und es dauert eine Weile, bis man ihn wieder eingefangen hat. Ansonsten klingt es nüchtern, wenn Hoffe über die schlimmsten Stunden seines 45 Jahre andauernden Lebens spricht. Er wirkt nicht nur äußerlich stabiler als Silva. Groß ist er und um einiges stämmiger als der eher schmächtige Kollege von damals.

Im hellen Hemd und dunklen Anzug setzt sich Hoffe an den Tisch eines Cafés in Sarasota, über seinem Bauch hebt sich eine rote Krawatte. Er kommt gerade aus seinem Büro in der Bank, und plaudert drauf los, als berichtete er seiner Frau die Ereignisse eines gewöhnlichen Arbeitstages. Natürlich war es ein einschneidendes Erlebnis, damals am 11. September 2001, aber er habe die Geschichte ja schon so oft erzählt. Statt mit einem Psychologen zu sprechen, hat Hoffe immer wieder vor vielen Menschen gesprochen. Zig Vorträge über seinen 11. September in New York hat Daniel Hoffe gehalten und Gesprächsrunden mit anderen Überlebenden initiiert. Das habe ihm geholfen, damit klarzukommen. Mit all den Bildern der verängstigten, der hysterischen Menschen.

Als der große Knall hereinbricht und der Südturm zu taumeln beginnt, verlieren sich die Leute im Turm – und sie verlieren, in der puren Angst zu sterben, nun auch jedes Gefühl für Zeit. Irgendwann hat es Daniel Hoffe nach draußen geschafft. Sein erster Blick geht nach oben, danach ist er erst einmal überwältigt. Der Himmel über New York ist so blau wie auf einer kitschigen Ansichtskarte, bloß zeigen die Ansichtskarten die Skyline von Manhattan nie mit Flammen und Rauch. „Surreal“ nennt er den Kontrast und „beängstigend“. Während andere sich die zusammenbrauende Tragödie aus nächster Nähe betrachten oder wie Alan Silva noch ums Überleben kämpfen, entscheidet sich Hoffe, ins Hotel zurückzugehen und dort auf die anderen zu warten.

Wer so sachlich veranlagt ist wie Daniel Hoffe, betrachtet das Leben oft als Aneinanderreihung von Entscheidungen. Aber nur selten beeinflussen einzelne Schritte, die womöglich die falschen sind, das Leben so sehr wie an diesem Septembertag, der so schön begonnen hat. „Es war eine Laune des Schicksals, wer in den Türmen überlebt hat und wer nicht“, sagt Daniel Hoffe. „Aber es war auch eine Frage der Entscheidungen. Wer sich falsch entschieden hat oder zu lange brauchte, für den war es aus.“

Wie lange Silva für die 44 Stockwerke benötigt, vermag er nicht zu beurteilen. Als er unten ist, sieht es jedoch schon aus wie im Kriegsgebiet; so jedenfalls, wie sich Alan Silva Krieg vorstellt. Ein beißender metallischer Geruch liegt in der Luft. Schutt- und Motorenteile liegen auf dem Boden, Glas, Papier – und ein verwaister, mit Blut verschmierter Frauenschuh. Auch so ein Detail, bei dem ihm heute noch mulmig wird. Erst jetzt erfährt Alan Silva von den Flugzeugen, die ins Center flogen, verstehen kann er es noch ein paar Monate nicht, verkraften womöglich nie.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, wie die beiden Banker die Zeit nach dem 11. September 2001 erlebten.

"Etwas in mir wird immer versuchen, aus diesem Gebäude zu kommen", sagt der Banker Daniel Hoffe.
"Etwas in mir wird immer versuchen, aus diesem Gebäude zu kommen", sagt der Banker Daniel Hoffe.

© Katrin Schulze

Das Erlebnis von New York kettet die Kollegen aus Sarasota aneinander. Zusammen fahren sie drei Tage nach den Terroranschlägen mit einem Mietauto zurück nach Florida. Zusammen organisieren sie in ihrem Heimatort eine Spendenaktion für die New Yorker Feuerwehr. Und zusammen tauschen sie sich über ihre eigenen Erlebnisse des Septembertages aus, meist, wenn sie sich abends auf ein Bier treffen. Bald allerdings, nicht einmal ein Jahr ist seit den Anschlägen vergangen, bricht der enge Kontakt – er hält der Gegensätzlichkeit der Charaktere nicht stand. Ohne den 11. September wären Alan Silva, Daniel Hoffe und Robert Cimetta in diesem Leben vermutlich keine Freunde geworden, und bald arbeiten sie auch nicht mehr für dieselbe Firma.

Ab und zu trudelt bei Hoffe und Silva eine E-Mail von Cimetta ein, der vier Jahre nach den Terroranschlägen wieder in seine Heimatstadt Toronto gezogen ist und dort einen Maklerbetrieb leitet. Cimetta blieb damals vor den brennenden Türmen stehen. Halb gebannt, halb schockiert schaute er dem Geschehen zu. Überlebt hat er nur, weil er schnell genug rennen konnte; er war mal ein recht erfolgreicher Eishockeyprofi. „Ich dachte, der Turm stürzt auf mich“, sagt Cimetta am Telefon. „Schließlich war ich nur zwei Blocks vom Geschehen entfernt.“ Wie so viele hat er nicht damit gerechnet, dass dieses Monstrum von Gebäude überhaupt würde einstürzen können.

Den Ort, den sie später Ground Zero, Nullpunkt, nennen werden, hat Daniel Hoffe in den zurückliegenden Jahren einige Male besucht. Er will wissen, was dort passiert, und er brauche die Begegnung mit der Vergangenheit, sagt er. Hoffe ist inzwischen für eine andere Bank in Sarasota als Investmentmanager tätig. Über seinem Schreibtisch im Gewerbepark der Stadt baumelt ein eingerahmtes Bild der beiden brennenden Festungstürme von New York. Konfrontationstherapie nennt man so etwas wohl. Während sich Silva die Bilder von damals kaum anschauen kann, blickt sein alter Freund täglich auf die Versinnbildlichung des Schreckens. „Das Foto ist für mich der Beweis, dass ich am Leben bin“, sagt Hoffe, „Ich will nie vergessen, wie viel Glück ich hatte.“

Ein bisschen dramatisch sei er manchmal, der Daniel Hoffe. Sagt Alan Silva. Dessen Art ist das nicht. Doch obwohl er sich selbst bis heute schon bei dem Gedanken unwohl fühlt, an den Ort zurückzukehren, an dem er als junger Mann mal gearbeitet hat und später fast gestorben wäre, hat er immerhin gelernt, sich an die Tragödie zu erinnern, ohne dass es ihm schlecht geht dabei. Je näher er dem Rentneralter kam – nur wenige Bekannte berät er heute noch in finanziellen Angelegenheiten –, desto ruhiger ist er geworden. Desto häufiger lässt ihn die schlimme Erinnerung in Frieden.

Aber ein Bild taucht bis heute unvermittelt und immer wieder auf. „Das werde ich wohl nie wieder los“, sagt er. Manchmal, wenn Silva selbst nicht damit rechnet, sieht er die Gesichter von zwei, drei Feuerwehrleuten. Ganz klar. Ihm macht es Angst, dass er sich haargenau an die Mundzüge der Männer, die entschlossen dreinblickenden Augen, selbst die Grübchen erinnert. Diese Menschen haben ihm ganz unten im Erdgeschoss des Südturms geholfen, die letzten Schritte bis in die Freiheit zu nehmen. Weit weg soll er gehen von diesem Ort, und das zügig, sagen sie noch. Dann kämpfen sich die Feuerwehrmänner nach oben zu den anderen Eingeschlossenen. Raus kommen sie nicht mehr.

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