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Politik: Republik der Tugendhaften

Keine Verfassung ohne Moral – die Kirchen veröffentlichen heute ihr gemeinsames Wort zur Demokratie

Berlin - Ist Tugend altmodisch? Die Kirchen jedenfalls sehen Grund zur Erklärung, warum ihr „gemeinsames Wort“ gerade den Titel „Demokratie braucht Tugenden“ trägt. Es gebe zum Glück, heißt es im Vorwort der Bischöfe Wolfgang Huber und Karl Lehmann, „eine neue Aufmerksamkeit für die Tugendethik“, die neben Prinzipien, Normen, Pflichten auch auf die „moralischen Akteure“ sehe.

Die Erklärung, die die katholische und die evangelische Kirche an diesem Donnerstag veröffentlichen wollen, ist allerdings weniger ein Dokument einer spezifisch christlichen Staatsbürgermoral. Die 50 Seiten lesen sich eher wie eine recht säkulare praktische Anleitung zu demokratischem Verhalten. Das sieht der Berliner Theologe Richard Schröder seinerseits als Tugend des Textes. Man habe „bei aller Liebe zu Strukturfragen dem zu Unrecht vernachlässigten individualethischen Standpunkt“ zu neuem Recht verhelfen wollen, sagt Schröder, der Mitglied der 17-köpfigen Kommission ist, die den Text erarbeitet hat. Die beste Verfassung nütze wenig, wenn Wähler, Politiker, Verbände, Journalisten ihre Rollen nicht verantwortlich ausfüllten. „VW ist derzeit ein schönes Beispiel dafür, was geschieht, wenn alle, Manager wie Gewerkschaften, ihre Rollen missbrauchen.“

Der Text der Kirchen betont, dass die Demokratie sich bewährt habe, kritisiert aber eine spezifisch deutsche Schwerfälligkeit des Systems. Politik, Verwaltung und Justiz böten viele und „ausgiebig“ genutzte Möglichkeiten, Veränderungen abzuwehren oder zu erschweren. Auch die von der Kanzlerin ausgerufene Politik der kleinen Schritte wird kritisiert, ohne sie zu nennen: „Mit kleinen Schritten und gelegentlichen Appellen an den Patriotismus sind die heute notwendigen Veränderungen nicht zu erreichen.“

Im Einzelnen formuliert der Text der Kirchen sogenannte „Verhaltenserwartungen“ an vier Gruppen, die seine Verfasser für die wesentlichen Akteure halten: Bürger/Wähler, Politiker, Journalisten und Interessenverbände. Ihnen müsse man mehr als nur Gesetzestreue abverlangen: „Die Vorstellung, in einer Ordnung der Freiheit könne jeder ohne Rücksicht auf das Ganze seinen Interessen nachgehen, weil die Regeln aus eigener Kraft im Stande seien, einen vernünftigen Ausgleich zu bewirken“ sei zwar weit verbreitet, aber „illusionär“.

Den Bürgern empfehlen die Kirchen Selbstbeschränkung beim Einfordern staatlicher Leistungen, die sie weder brauchen noch für sie gedacht sind. Sie sollten zudem nicht leichtfertig „die da oben“ abqualifizieren; Wahlentscheidungen sollten sie mit ebenso viel Vernunft treffen wie persönliche. Politiker ihrerseits dürften sich nicht zu Sklaven ihrer Wähler machen. Journalisten werden ermahnt, sich weder durch Nähe noch durch Geschenke korrumpieren zu lassen. „Informationen mögen auch eine Ware sein – aber sie sind keine Ware wie jede andere.“ Den Verbänden, ob sie Industrie, Beamte, Vermieter oder Mieter vertreten, möchten die Kirchen sogar das Lügen abgewöhnen: „Die Geltendmachung allgemeiner Belange und Gerechtigkeitsvorstellungen erfolgt oft nur, um Sondervorteile für die Verbandsmitglieder oder institutionelle Interessen des Verbandes selbst … durchsetzen zu können.“

Am Schluss enthält der Text sogar einen Seufzer in eigener Sache. Vom Gemeinsinn, den sie fordern, versprechen sich die Kirchen anscheinend auch Entlastung: „Die Wahrung der Belange der Schwachen in der Gesellschaft“, ist zu lesen, „sollte nicht allein davon abhängen, dass die Kirchen oder zivilgesellschaftliche Gruppen für sie eintreten.“

Das vollständige Dokument finden Sie unter der Internetadresse: www.tagesspiegel.de/pdf/demokratie.pdf

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