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Politik: Rettung - mit aller Gewalt (Leitartikel)

Man muss sich kräftig die Augen reiben. Sonst vergisst man, dass hinter dem Spektakel um Elian Gonzalez Realität steht.

Man muss sich kräftig die Augen reiben. Sonst vergisst man, dass hinter dem Spektakel um Elian Gonzalez Realität steht. Sonst sieht man nur noch das, was fraglos herzerweichend ist und, je nach Interpretation, ein Drama, ein Martyrium, eine doppelte Rettung.

Das Gezerre um ein Kind, dessen Mutter bei der gemeinsamen Flucht starb: Dies ist das Drama. Auf tragische Weise dem Kommunismus entronnen und nun von einer gleich herzlosen wie brachialen US-Regierung einem Schergen Castros überantwortet, Martyrium also - so sehen es viele Exilkubaner in Amerika und durchwirken die Geschichte Elians zur Überhöhung noch kräftig mit religiöser Symbolik. Die reicht von den Delfinen, die den damals Fünfjährigen angeblich retteten, bis zur Cousine Marisleysis, der Unschuld mit geraubtem Sohn. Schließlich die doppelte Rettung: Dies ist die Formel, auf die Amerikas Mehrheit die Saga reduziert. Erst war es ein Fischer, der Elian im November 1999 aus dem Meer zog, dann waren es Sonderpolizisten, die Elian aus der allzu engen Umklammerung durch seine fanatisierte Ersatz-Familie in Florida befreiten.

So ist das mit Mythen. Sie währen ewig. Und immer geht es weiter. Zunächst wird es juristisch und politisch weiter gehen. Es gilt noch immer der Gerichtsbeschluss, wonach Elian die USA nicht verlassen darf, ehe abschließend über die Zulässigkeit seines vom Onkel gestellten Asylantrags befunden wird. Das kann lange dauern. Wenn der jetzt so überglückliche Vater die Geduld verliert und nach Kuba fliegen will: Dann müsste die Polizei erneut kommen und den Jungen wieder Jemandem aus den Armen reißen.

Politisch sind es die Republikaner, die die Flamme nähren werden. Ihr Chef im Repräsentantenhaus, Tom DeLay, hat versichert, es werde einen Untersuchungsausschuss geben. Viel Neues wird der nicht finden. Er wird Amerika daran erinnern, dass die Demokraten, sonst die Partei, die für Einwanderer, für kleine Leute und gegen Waffen argumentiert, hier mit martialischem Auftreten den Sicherheitsapparat des Bundes gegen ziemlich unbescholtene Bürger mobilisiert hat. Er wird an den Eiertanz Al Gores erinnern, der fast jeder Wertung der Clinton-Regierung widerspricht. Ein paar Wähler der Mitte, die Elian zwar bei seinem Vater sehen wollen, den Einsatz im Morgengrauen aber für zu brutal halten, werden Gore mit Stimmentzug im November bestrafen. Wegen Feigheit und Nach-dem-Mund-Reden - oder wegen des Einsatzes.

Dessen Härte war vertretbar. Janet Reno, die Verantwortliche, musste mit Gewalt rechnen, ob spontan von der Familie oder von Heckenschützen verübt. Nicht die Maschinengewehre derer, die Elian holten, waren das Problem. Es war erneut die Öffentlichkeit mit ihren Begierden. Eigentlich sollten Medien ein Filter sein. Aus dem Wirrwarr, das uns umgibt, sollen sie strukturierten Sinn generieren. Dazu ist unsereins da. Doch bei Elian war vor allem das Fernsehen ein purer Verstärker, der jeden Seufzer und jede Anschuldigung herausplärrte.

Die Cousine bediente jene Verschwörungstheoretiker, die glauben, der lächelnde Junge auf den neuesten Fotos sei gar nicht Elian, dazu sei sein Haar in wenigen Stunden zu sehr gewachsen, oder es habe keinen gerichtlichen Vollstreckungsbefehl zum Sturm auf das Haus in Miami gegeben. Marisleysis Gonzalez ihre Hysterie zum Vorwurf zu machen, wäre ungerecht. Sie nicht ein wenig vor sich selbst geschützt zu haben - dies ist der berechtigte Vorwurf. Bei Elian haben fast alle Beteiligten durchgedreht. Auf Kosten eines Kindes.

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