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Revolution in Ägypten: Ein Land feiert einen 16-jährigen Helden

Vom gut aussehenden Musterschüler mit Auszeichnung zum Märtyrer und Staatsfeind. Warum der 16-jähriger Ägypter Gaber Salah - alias Gika - sterben musste. Und warum er auch nach seinem Tod den Muslimbrüdern gefährlich werden könnte.

Giiiii-Kaaa, Giiiii-Kaaa! Es ist wie Musik, aber kein Song. Eher eine Hymne. Eine wie aus dem Stadion. Zwei Silben, langgezogen. „Giiiii- Kaaa, Giiiii-Kaaa, Ohhhh Giiiii-Kaaa“ dröhnt es durch die Winkel der Mohammed Mahmut Street, den Polizisten entgegen. Bevor das Tränengas kommt. Bevor die Steine fliegen. Für einen Moment meint man dann: Gleich taucht er auf, die Arme ausgestreckt wie beim Torjubel. Aber er wird nicht kommen. Denn Gika ist tot.

Kairo, ein heißer Tag im Juni. Ein Junge mit einem Pferdeschwanz läuft eine Straße entlang. Er summt das Lied. Zwei Silben. Die Straße ist ziemlich bunt. Graffiti in wilden Farben, überall. Vor einem der Bilder hält der Junge an. Er sagt: „Du willst sehen, wie die Revolution heute aussieht, dann schau in dieses Gesicht.“ Das Graffito, auf das Mina Zaki zeigt, hat in Ägypten Karriere gemacht. Im ganzen Land wurde es mittlerweile kopiert. In Kairo an jeder Straßenecke, aber auch in Suez, in Port Said, in Alexandria.

Das Revier der ägyptischen Revolutionäre

Das Bild zeigt einen jungen Mann, den Afrolockenkopf in den Nacken gekippt, den Mund zum Singen weit aufgerissen. Mächtig wütend sieht er aus, die Arme ausgebreitet, als würde er gleich davonfliegen. Es ist so ein Bild, das einen nicht mehr loslässt. Vier Buchstaben stehen daneben: Gika. Wer war Gika?

Die Mohammed Mahmut Street ist nicht bloß eine Straße. So wie der Tahrir nicht mehr bloß ein Platz ist. Sie ist eine Wutbürgerstraße, Protestgalerie. Hier liefern sich Demonstranten und Sicherheitskräfte nach wie vor Straßenschlachten. Es ist das Revier der jungen Revolutionäre. Ein buntes Fantasia, dessen Bilder vom Spott für Mursis miefigen Gottesstaat erzählen und von den gefallenen Helden der Revolution. Hier hat der Junge mit dem Lockenkopf gemalt. Gikaland.

Mina, 21, erinnert mit seinem Flusenbart und dem zotteligen Pferdeschwanz an einen der verlorenen Jungs bei Peter Pan. Mina sagt: „Die Jungen haben die Revolution gemacht, die Alten haben sie uns geklaut.“ Er holt Luft. Dann erzählt er von Gaber Salah, den alle nur Gika nannten. Von ihrer gemeinsamen Jugend in den Straßen von Downtown. Von seinem Freund, der nach der Schule arbeiten ging, freiwillig, um die Familie zu unterstützen, und der bei den Demonstrationen immer in der ersten Reihe stand. Mina sagt: „Gika hat alle in seinen Bann gezogen.“ Manchmal muss Mina beim Erzählen innehalten, aufpassen, dass die Tränen nicht übers Gesicht fließen. Es ist alles noch ziemlich frisch.

Von Gikas Bild aus kann man bis zum Tahrir-Platz blicken, der am Ende der Straße in der Sonne liegt. Diesen Ort hat sich Gika selbst ausgesucht, sagt Mina. Alle hätten so einen Ort, falls etwas passiert. Er wollte bei Osam Ahmet sein, ein Bild weiter. Einem Freund, der vor einem Jahr von Schlägertrupps vor dem Justizministerium getötet wurde. Gika hatte ihn auf den Schultern aus der Menge getragen, 16 Jahre alt war Gika an diesem Tag.

Wer sich auf die Suche nach einem toten 16-Jährigen macht, den alle einen Helden nennen, der steckt in einem Dilemma. Weil man im Kopf alles zu relativieren beginnt. Jaja. Heldengeschichten. Aber was ist, wenn der Junge genau so war, wie sie erzählen? Was ist das überhaupt, ein Held?

Am 26. November 2012 drohte die Mohammad Mahmut Street aus allen Nähten zu platzen. Es war eine Prozession wie für einen Rockstar, mehrere tausend Menschen auf den Straßen. Der Trauerzug für Gika führte von der Omar-Makram-Moschee auf dem Tahrir quer durch die Innenstadt. Al Dschasira und CNN berichteten. Die Nachricht ging so: Ein Jugendlicher, gläubiger Moslem, einst Anhänger der Muslimbrüder, auf einer Demonstration gegen Mursis Verfassungsdekret erschossen. Ohne ersichtlichen Grund.

Gika war der erste politische Tote unter Mursi

Natürlich hatte Ägypten schon viele Tote gesehen. Aber dieser Junge war der erste politische Tote unter Mursi. Und nicht nur das: Er war genau so, wie sich Ägypten einen unschuldigen Helden vorstellt. Gutaussehend, Musterschüler mit Auszeichnung, stadtbekannter Star der Jugendbewegung. Gika war so perfekt, dass sich die staatlichen Vertreter nicht trauten, ihn als Krawallmacher, Banditen und Verbrecher zu beschimpfen. Plötzlich kannte ein ganzes Land seinen Namen, Schriftsteller verfassten Gedichte über ihn, Facebookgruppen schossen wie Pilze aus dem Boden. In diesem Jungen, so schien es, hatte das neue Regime das letzte bisschen Unschuld erschossen.

Vor die Sonne haben sich jetzt speckige Wolken geschoben, Mina schnippt den Rest seiner dritten Zigarette auf den Boden. Langsam Zeit aufzubrechen, Richtung Hauptquartier. Dort soll der Junge sein, der dabei war, als die Schüsse fielen. Und auch um diese andere Sache soll es gehen. Gikas letzten Streich. Mina zwinkert verschwörerisch.

Wer mit Mina durch die Straßen von Kairo läuft, der muss oft anhalten. Hände schütteln, bärtige Wangen küssen. Denn auch Mina ist eine kleine Berühmtheit. Wie Gika gehört er zur Bewegung des 6. April, der einflussreichsten Gruppe der jungen Revolutionäre. Mina ist ein Vollzeitrevolutionär, sein Studium liegt brach. 16 Mal haben sie ihn schon ins Gefängnis gesteckt, geprügelt, bedroht. Beim letzten Mal, im September 2012, versammelten sich über tausend Demonstranten vor der Polizeistation in Kairo. Das Fernsehen war da, es stand in allen Zeitungen. Er habe in seinem Leben immer Angst gehabt, sagt Mina. Dann kam die Revolution, und irgendwie war die Angst plötzlich verschwunden.

Die größte Unterschriftensammlung Ägyptens

Hauptquartier. Um die Tische hat sich heute eine ganze Reihe unterschiedlicher Oppositionsvertreter versammelt. Die Sache, von der alle reden, heißt Tamerod. Rebellion. Nach viel Zankerei haben sich die zersplitterten Parteien für die größte Unterschriftensammlung in der Geschichte Ägyptens zusammengerauft. 15 Millionen Namen will man bis zum 30. Juni gegen Mursi gesammelt haben. Es sieht gut aus. Nach eigenen Angaben waren es Mitte Juni bereits über zehn Millionen. Die Abgabe beim Obersten Gericht soll dann der Auftakt für die größte Demonstration überhaupt in Ägypten werden. „Ein zweiter Frühling“, so sagen sie. Der Ort ist noch geheim, aber vieles deutet auf den Präsidentenpalast hin. Schwerer abzuriegeln als der Tahrir.

„Mursi ist nervös, es wird Gegendemonstrationen geben. Aber danach wird das Land nicht mehr dasselbe sein“, glaubt Mohamed Ismail von der ägyptischen Verfassungspartei. Er ist einer der Kommunikationsberater von Mohammed el Baradei und das Bindeglied zwischen dem berühmten Politiker und den jungen Revolutionären. Ziel sei ein friedlicher Protest, sagt Ismail. Aber so recht mag er daran nicht glauben. „Es wird Blut fließen“, sagen die meisten.

Ein Denkmal für Gika

„Am 30. Juni wollen wir Gika ein Denkmal bauen“, sagt Mina. Allgemeines Nicken. In der nächsten Stunde werden viele von ihren Erlebnissen mit Gika erzählen. Sie werden dabei Sätze sagen wie diesen: „Du konntest ihn in einen Raum mit Fremden sperren, und wenn du nach fünf Minuten wieder aufgemacht hast, hatte er 20 neue Freunde.“ Oder: „Wenn er dabei war, schien alles möglich. Dieser Typ war niemals 16 Jahre alt.“ Am Ende der Erzählungen hat man dann eine Menge Etiketten für Gika: Anführer, Ikone, Sonntagskind, Spaßvogel.

Richtig nahe aber ist man ihm nicht gekommen. Was ist mit Angst? Hatte Gika Angst? Kopfschütteln. „Angst um andere, ja. Angst um sich selbst, nie.“

Es gibt diese Menschen, denen alles zuzufliegen scheint: der Erfolg, die Herzen, das Glück. Bei denen sieht alles spielerisch aus. Selbst eine Revolution.

Ahmed Samir nimmt sich zum Erzählen die randlose Brille vom Gesicht. Der Junge, der Gika sterben sah, trägt Bügeljeans, Karohemd. Der 19. November 2012, neun Uhr morgens. Am Tag zuvor hat es schwere Straßenschlachten gegeben, nur noch knapp 50 müde Demonstranten stehen am Eingang der Youssef el-Gendy Street, einem Seitenarm der Mohammed Mahmut Street. Am Ende der kurzen Einbahnstraße liegt eine Mauer, dahinter das Innenministerium. Was genau dort passierte, ist umstritten. Es hat nie eine umfassende Untersuchung des Falls gegeben. Aber Ahmed Samir erzählt es so: Gika und die anderen erkennen vor dem Innenministerium eine Gruppe maskierter Polizisten, zwei von ihnen haben sich auf der Mauer postiert. Gika führt die Gruppe an. Sie laufen skandierend in Richtung Innenministerium. Einer der Polizisten steigt von der Mauer herunter und marschiert, die Waffe im Anschlag, den Demonstranten entgegen. Die meisten bleiben stehen, Gika aber geht weiter. „Na los, erschieß mich doch“, brüllt er, „erschieß mich doch.“ Gika hat die Arme ausgebreitet, den Kopf in den Nacken gekippt, gleich hebt er ab, denkt Ahmed Samir. Und es scheint zu wirken. Der Polizist zieht sich auf die Mauer zurück. Doch dann fallen plötzlich Schüsse. Streumunition. Ein Projektil trifft Gika direkt in den Kopf, weitere dringen in seine Brust und Beine ein, und der Junge, der eben noch drohte davonzufliegen, sackt zusammen.

"Gika war einfach nicht aufzuhalten"

In einem Youtube-Video kann man die Schüsse hören, man sieht die jungen Demonstranten wie ein Schwarm Fische auseinanderstieben, man hört das Geschrei. Ahmed Samir packt Gika unter dem Arm, zerrt ihn auf einen Roller, donnert Richtung Tahrir. Er ist wie betäubt. Sie erreichen einen Krankenwagen, Ahmed schaut an sich herunter, er sieht Blut, überall Blut. Da ahnt er, dass es zu spät sein könnte.

Das Haus, in dem Gaber Salah aufwuchs, hängt in der Häuserreihe wie ein grauer Zahn in einem schlechten Gebiss. Vor dem Haus ein ausgebranntes Auto, darüber Plakate: „Jeder Märtyrer schreibt seinen Namen mit Blut in die ägyptische Geschichte“, steht dort. Die Tür öffnet eine Frau, ganz in Schwarz, müdes Lächeln. Sie führt durch eine schummrige Wohnung in ein kleines Zimmer. Zehn Quadratmeter, überall Pokale, Auszeichnungen, Skizzen. Dazwischen sitzt ein Mann. Er sitzt dort wie in einem alten Leben. Gikas Vater sagt: „In diesem Zimmer wird nie jemand anderes schlafen. Es wird so bleiben. Für immer.“

Salah Jaber ist ein religiöser Mann. Die Falten an den Augen erzählen von wenig Schlaf und viel Kampf in den vergangenen Monaten. Er spricht leise, der Kopf hängt gebückt in die Welt hinein. „Ich wusste immer, dass etwas passieren würde, aber Gika war einfach nicht aufzuhalten.“

Sein Sohn, sagt er, wollte früher Offizier werden. Aber als er sah, wie sich das Militär gegenüber den Demonstranten verhalten hatte, gab er den Traum auf. Und so war es auch mit den Muslimbrüdern. Als Gika erkannte, dass sie sich über die Verfassung stellten, kam es zum Bruch.

Salah Jaber führt im Moment einen Rechtsstreit. Es geht um die Frage, ob Gika ein Held war. Der Antrag zur Aufnahme seines Sohnes in die Märtyrerliste der Revolution blieb von den Behörden unbeantwortet. Über solche Fragen entscheidet in Ägypten nämlich die Regierung persönlich. Ihm gehe es nicht um Geld, sagt Salah Gaber. Er wolle nur Gerechtigkeit. Ist das zu viel verlangt?

"Nicht die Revolution hat mir meinen Sohn genommen. Es waren die anderen."

Sein Gesicht bekommt jetzt einen harten Zug. Zwei Tage vor Gikas Tod seien zwei Männer da gewesen, erzählt er. Sie hätten gedroht, falls Gika nicht von den Straßen verschwinde, würden sie ihn umbringen. „Es war kein Unfall, sie wollten ihn weghaben, weil die anderen zu ihm aufblickten“, sagt er. Am 30. Juni wolle er beten für die jungen Leute, die für ein besseres Ägypten kämpfen. Eines, das er, ein halbes Jahrhundert alt, nie gesehen hat. „Am Ende werden sie siegen“, sagt er. Aber es wird nicht sein Sieg sein. Manchmal frage er sich, was ihm bleibe in diesem neuen Leben. Dem Leben ohne Gika.

Was würde er seinem Sohn sagen? „Du warst im Recht. Du warst ein guter Sohn. Ich bin stolz auf dich.“ Dann steht er auf, verabschiedet sich. Abendgebet. Gikas Mutter serviert süßen Tee. Sie saß die ganze Zeit im Hintergrund. Hat geschwiegen. Kein Zittern, keine Aufregung. Der Schmerz hat sich verändert, sagt sie. Er ist jetzt kalt. Wie Metall, das die Brust beim Reden einschnürt.

Fatima Jalah sieht Gikas Bilder überall in der Stadt. Bei jedem Gang vor die Tür. Manchmal ist das schwer. Aber es hilft auch zu wissen, dass er nicht vergessen ist. Vor kurzem haben ihr Mina und die anderen eine Botschaft im Treppenhaus hinterlassen. Ein rotes Graffito: „Alles Gute zum Muttertag.“ Fatima Jalah sagt: „Nicht die Revolution hat mir meinen Sohn genommen. Es waren die anderen. Warum nur?“

Erschienen auf der Reportage-Seite.

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