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Rhetorikprofessor Dietmar Till im Interview: Die Angst der Politiker vor dem "Shitstorm"

Wie gut können unsere Politiker reden? Im Tagesspiegel-Interview spricht Rhetorikprofessor Dietmar Till über die erfolgreiche Anti-Rhetorik der Kanzlerin, Peer Steinbrücks Zurückhaltung und Jürgen Trittins gelungene Spitzen.

Herr Till, Wahlkampfzeit ist Redezeit. Freuen Sie sich als Rhetorik-Experte auf die kommenden Monate?
Es ist schon spannend zu beobachten, ob rhetorische Fähigkeiten auch zum politischen Erfolg beitragen.

Und, tun sie’s?
Prinzipiell kann das gelingen. Das Problem ist nur: Reden sind zwar gerade in Wahlkampfzeiten zahlreich, aber die Wiederholungen eben auch. Denn heutzutage arbeiten Politiker in großem Maße mit Versatzstücken, um ihre Botschaften möglichst kohärent zu halten. Da gibt es wenig Überraschendes. Aber ich freue mich auf das TV-Duell zwischen der Kanzlerin und ihrem Herausforderer, weil beide zeigen können, was sie rhetorisch drauf haben.

Was halten Sie von den rednerischen Fähigkeiten unserer Politiker?
Das hängt stark von der jeweiligen Person ab. Die einen sind gute, die anderen schlechte Redner. Interessant ist jedoch: Was man für rhetorisch brillant hält, muss sich nicht zwingend politisch auszahlen. Und umgekehrt.

Selbst schlechte Redner können beim Wähler punkten?
Durchaus. Schauen Sie sich zum Beispiel Angela Merkel an. Sie kann eigentlich gar nicht richtig reden oder gar so etwas wie Gefühle vermitteln. Sie ist auch nicht in der Lage, ihre Stimme einzusetzen. Rhetorisch mangelhaft, würde man sagen. Aber so merkwürdig es klingen mag: Diese Anti-Rhetorik gibt ihr die Möglichkeit, die Menschen zu erreichen.

Wie das?
Weil man sich in dieser Unfähigkeit zu kommunizieren spiegelt. Nach dem Motto: Die kann’s nicht, ich auch nicht. Und deshalb wähle ich sie.

Über welche rhetorischen Fertigkeiten verfügt Merkels Herausforderer?
Steinbrück ist einer, der es wirklich kann. Er hat im Bundestag bereits einige ziemlich guten Reden gehalten, kann witzig und ironisch sein. Nur: Im Moment will ihm nichts gelingen. Der SPD-Kandidat wirkt gehemmt.

Woran liegt das?
Ich glaube, Steinbrück muss noch seine Linie finden. Sein Problem ist, dass er nach den Debatten um Nebenverdienste, Honorare und Kanzlergehälter aus der Defensive heraus agieren und argumentieren muss. Und wenn die SPD versucht, ein Thema zu setzen, zum Beispiel soziale Gerechtigkeit, dann ist die Kanzlerin rasch zur Stelle, um jeden Versuch geschickt ins Leere laufen zu lassen.

Eine bewährte Taktik.
Richtig. Merkel lässt Polarisierung einfach nicht zu. Hinzu kommt, dass Steinbrück fürchten muss, dass seine Äußerungen zu Steilvorlagen für die Medien und den politischen Gegner werden. Wir leben nun mal im Zeitalter von Twitter und Facebook. Da kann es im Handumdrehen passieren, dass aus ein paar Worten eine Empörungs-Welle, ein Shitstorm wird.

Was hat das für Folgen?
Politiker achten ganz genau darauf, was sie sagen. Bloß keine womöglich irreführenden Metaphern! Achtung, keine Ironie! Das macht die Rhetorik der Gegenwart recht langweilig. Die Politiker fürchten sich vor dem Fehltritt und der einhergehenden Erregung.
War das früher anders?
Ja, das denke ich schon. Politiker wie Franz Josef Strauß oder Herbert Wehner haben selbst im Bundestag so richtig zugelangt, Verbalinjurien eingeschlossen. Heute werden Reden schon im Vorfeld von Profis geglättet, immer auf mögliche Wirkungen und Auswirkungen hin geprüft.

Beherrschten Politiker wie Strauß und Wehner noch die klassische Kunst, mit einer argumentierenden Rede andere zu überzeugen?
Strauß auf jeden Fall, der hatte ja auch den entsprechenden Bildungshintergrund. Wehner verkörperte wiederum den alten Typus des Kommunisten, war geschult im Umgang mit Fäusten und Worten. Beide konnten austeilen.

Das kann einer wie Jürgen Trittin auch, oder?
In der Tat. Der Grünen-Politiker ist einer, der sehr spitz und prononciert auf den Punkt formulieren kann. Und einer, der Lust am Streit und keine Furcht davor hat, gegebenenfalls den Gegner herabzusetzen. Es macht einfach Spaß, ihm etwa im Fernsehen zuzuschauen und zuzuhören.

Fluch des Medienzeitalters

Apropos Fernsehen: Bundestagdebatten werden heute kaum noch zur Kenntnis genommen. Die Redeschlachten finden überwiegend in den Medien, vor den TV-Kameras statt. Was hat das für Auswirkungen?

Anders als zum Beispiel in Amerika, wo die Kunst der Rede derzeit eine kleine Renaissance erlebt - übrigens mithilfe neuer Medien wie Youtube -, erhält man in Deutschland via Fernsehen, Radio und Internetportalen nur noch Soundbites, kurze Statements. Es wird sehr auf prägnante Formulierungen geachtet. Das ist dann die Quintessenz einer Rede. Unsere politische Kommunikation hat sich leider in die Talkshows zurückgezogen. Dort findet die entscheidende Form der politischen Auseinandersetzung statt.

Mit welchen Folgen?
Wir erleben eine Verflachung. Es geht nur noch selten in die Tiefe. Und das ist ein echtes Problem. Denken Sie etwa an die Euro-Krise. Kein Mensch kann heutzutage noch nachvollziehen, was vor sich geht. Da wäre Wissens-Vermittlung vonnöten. Es müsste jemanden geben, der sich die Zeit nimmt, das Große und Ganze zu erklären. Doch so etwas findet nicht statt.

Ist das der Fluch des Medienzeitalters?
Ein Stück weit schon. Weil bei der Berichterstattung mittlerweile eine derart hohe Geschwindigkeit erreicht ist, dass für Argumentation keine Zeit mehr bleibt. Mit erheblichen Folgen auch auf institutioneller Ebene.

Inwiefern?
Politische Entscheidungen fallen heute zumeist hinter verschlossenen Türen. Öffentliche Rhetorik spielt also keine Rolle mehr. Postdemokratisch nennen das manche Politikwissenschaftler. Dass das Volk auf diese Art zustande gekommene politische Entscheidungen akzeptiert, braucht keiner zu glauben. Politik muss schon erklären, einen Konsens suchen. Sie braucht Transparenz, um Demokratiemüdigkeit vorzubeugen.

Professor Dietmar Till (43) ist geschäftsführender Direktor des Seminars für Allgemeine Rhetorik an der Universität Tübingen. Zu seinen derzeitigen Forschungsinteressen gehören unter anderem die Geschichte der Rhetorik im 18. Jahrhundert und die Propagandaforschung des 20. Jahrhunderts.

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