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Kinder und Jugendliche und eine Lehrerin sitzen vor einer Reihe von Computern.

© AFP

Roma-Familien in Deutschland: Politik beginnt beim Betrachten der Wirklichkeit

Eine Schulstadträtin aus Neukölln erkundet, warum Roma nach Berlin fliehen. Das hat ihr die Augen geöffnet. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

In Berlin leben etwa 30 000 Rumänen und Bulgaren, Bürger zweier EU-Staaten, die die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union in Anspruch nehmen – so wie deutsche Staatsbürger, die in Frankreich, Italien oder den Niederlanden leben und arbeiten. Aus Bulgarien und Rumänien kommen zwar auch in wachsendem Ausmaß junge, gut ausgebildete Frauen und Männer, die auf dem heimischen Arbeitsmarkt entweder keine Chancen haben oder denen die Weiterbildungsmöglichkeiten in ihren Heimatländern nicht ausreichen. Über diese Gruppe aber wird in der deutschen Öffentlichkeit kaum diskutiert. Die oft erregte Debatte kreist um bulgarische und rumänische Romafamilien, denen vorgeworfen wird, sie wanderten nur in die deutschen Sozialsysteme ein.

Eine bemerkenswerte Frau

Da sie hier keine regulären Jobs bekommen, melden sie sich als Gewerbetreibende an. Die Männer finden dann zu Dumpingbedingungen auf dem Bau Arbeit, die Frauen als Reinigungskräfte, gerne auch in luxuriösen Hotels. Davon können sie nicht leben, erhalten demzufolge staatliche Hilfen.

Und diese Menschen haben Kinder, viele Kinder. Die gehen auf deutsche Schulen, ohne dass sie ein Wort Deutsch sprechen. Das ist eine Herausforderung für die Schulen, für die Lehrer, für die Mitschüler und für die Bezirke, in deren Händen und Verantwortlichkeit die Schulversorgung liegt. Ein Brennpunkt der Roma-Zuwanderung in Berlin ist der Bezirk Neukölln. Die offiziellen Zahlen gehen von 5500 Menschen aus, die für Schule und Bildung zuständige Bezirksstadträtin Franziska Giffey meint, es seien doppelt so viele.

Franziska Giffey ist eine bemerkenswerte Frau. Der Posten des Schulstadtrates ist nicht begehrt, mit anderen Verantwortlichkeiten ist mehr Renommee verbunden, und was in Zehlendorf oder Köpenick noch mit relativ wenig Stress zu bewältigen sein mag, wird in Neukölln zu einer Herausforderung. Willkommensklassen, rumänische und bulgarische Hilfskräfte versuchen die Sprachdefizite auszugleichen, bewährt haben sich Deutschkurse mit Bilderbüchern, weil sie helfen, spielerisch zu lernen. Und lernen wollen die Romakinder wie jedes Kind, weil jedes Kind neugierig ist, begierig, mehr zu wissen und zu erfahren.

Bis dahin klingt diese Geschichte wie eine, die man in jedem Berliner Bezirk mit hohem Migrantenanteil aufschreiben könnte. Der lange Anlauf dient bewusst der Beschreibung des Herkömmlichen, denn Franziska Giffey hat sich nicht damit zufriedengegeben. Nein, sie hat sich in diesem Jahr in Bulgarien genau an den Orten umgesehen, aus denen die Mehrzahl der Romafamilien kommt, und Gleiches hat sie bereits im Vorjahr bei einer Reise nach Rumänien versucht. Denn sie hat eine Grundregel beachtet und ernst genommen: Politik beginnt beim Betrachten der Wirklichkeit. Franziska Giffey wollte wissen, aus welchem Umfeld die Romafamilien kommen.

Diese Wirklichkeit hat ihr die Augen geöffnet. Sie hat gesehen, dass Romakinder in ihrer Heimat keine Möglichkeit haben, auf normalen Schulen angenommen zu werden. Hat gesehen, dass ihre Eltern weniger Chancen auf Jobs haben, weil sie wegen ihrer Herkunft und dunkleren Hautfarbe diskriminiert werden. Sie hat erfahren, wie diese Familien durch das Vorurteil stigmatisiert werden, Roma seien faul und nicht leistungsbereit.

Weder Bukarest noch Sofia haben Interesse an einer Lösung

Franziska Giffey kämpft seitdem mit anderen um Verständnis für die Beweggründe der nach Berlin kommenden Roma. Sie will nicht nur erreichen, dass die Bezirke mehr Mittel für die Schulen erhalten, sondern, dass dies als gesamtstädtische Aufgabe begriffen wird, und dass darüber hinaus sich die Bundesrepublik als Gesamtstaat der Aufgabe der Integration stellen muss. Sie hat auch die Erkenntnis mitgebracht, dass sowohl Rumänien als auch Bulgarien längst nicht jene Beträge aus dem Europäischen Sozialfonds abfordern, die von der EU für die Integration von Benachteiligten bereitgestellt werden. Der Verdacht liegt nahe, dass weder in Bukarest noch in Sofia ein echtes Interesse an dieser Integration besteht, sondern dass die dominierenden politischen Kräfte dort die Auswanderung der Roma nach Deutschland für eine elegante Lösung des als Problem durchaus wahrgenommenen schlimmen Zustandes halten.

Dass auch Deutschland die Sozialfondsmittel nicht voll in Anspruch nimmt, kann als Entschuldigung nicht herhalten.

Aber die deutsche Politik darf durchaus laut die Frage stellen, ob und wie die EU zwei Mitgliedstaaten zu sanktionieren gedenkt, die eine ethnische Gruppe brutal diskriminieren, die seit Jahrhunderten auf ihren Staatsgebieten lebt.

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