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Politik: Rote Zahlen, rosa Zukunft

Die Pflege ist eine boomende Wirtschaftsbranche, aber nicht jeder wird davon profitieren

Nicht weniger als ein Jobwunder wird dem Bereich Pflege vorhergesagt: Hunderttausende neue Stellen versprechen Experten angesichts eines immer weiter steigenden Anteils alter Menschen an der Bevölkerung. Allein für Nordrhein- Westfalen hat das Institut Arbeit und Technik (IAT) in Gelsenkirchen bis zu 100 000 neue Arbeitsplätze in den nächsten 15 Jahren errechnet. „Für ganz Deutschland gehen wir über den Daumen gepeilt von bis zu 400 000 neuen Stellen aus“, sagt Josef Hilbert, Leiter des Forschungsschwerpunkts Gesundheit und Lebensqualität am IAT. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hält es gar für möglich, dass bis zum Jahr 2050 allein im stationären Pflegebereich über eine halbe Million Arbeitsplätze geschaffen werden.

Die Wirtschaftsbranche Pflege sei in den vergangenen Jahren heftig expandiert, sagt Hilbert. Das werde auch in den nächsten Jahren so weiter gehen. „Schon allein aus der Demografie ergibt sich, dass das ein Wachstumsbereich ist“, bestätigt der stellvertretende Geschäftsführer des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung in Köln (dip), Michael Isfort. Die Statistiken sind eindeutig: Von 2003 bis 2005 stieg die Zahl der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland um 52 000 auf 2,13 Millionen, gibt das Bundesamt für Statistik an. Bis 2020 werde die Zahl auf 2,83 Millionen anwachsen. Zudem nähmen Bereitschaft und Möglichkeiten zur häuslichen Pflege durch Familienangehörige weiter ab, sagt Hilbert. Ein steigender Bedarf an professionellen Pflegekräften scheint unausweichlich zu sein.

Die neu geschaffenen und vorhergesagten zusätzlichen Stellen sind allerdings keineswegs immer Vollzeitjobs. Sowohl im ambulanten Pflegedienst als auch bei der stationären Betreuung stieg zwar die Zahl der Arbeitskräfte von 2003 bis 2005 um rund sieben Prozent, doch betraf der Anstieg die geringfügig Beschäftigten. „Die Zahl der Vollbeschäftigten ist hingegen rückläufig“, heißt es in der Pflegestatistik 2005. Besonders negativ aus dem Rahmen fällt der Bereich Pflege in Krankenhäusern: Dort sind laut dip innerhalb von zehn Jahren rund 40 000 Stellen abgebaut worden. Rund 30 000 weitere Stellen an Kliniken sind laut Deutschem Pflegerat aufgrund andauernder Sparanstrengungen bedroht.

Die Zunahme von Arbeitsstellen sage auch noch nichts über die wirtschaftlichen Gewinne der Branche aus, betont Isfort. Von einer „Boombranche mit Wermutstropfen“ spricht IAT-Wissenschaftler Hilbert. Die Bezahlung im Pflegebereich sei „alles andere als rosig“. „Es geht in Richtung Gürtel-enger-Schnallen“, sagt Hilbert. Manche Pflegedienste zahlten für ihre gut ausgebildeten Vollzeitkräfte nur 1500 bis 1800 Euro brutto im Monat, weiß Martin Franke, Geschäftsführer des Pflegedienstes Häusliche Pflege und Psychosoziale Betreuung (PSB) in Berlin-Mitte. Die Bezahlung seiner eigenen Vollzeitkräfte gibt er mit rund 2500 Euro brutto an, was aber ungewöhnlich gut bezahlt sei. Ihm werde sogar von Löhnen um die 1000 Euro brutto pro Monat berichtet, sagt Diplompflegewissenschaftler Isfort. Genaue Statistiken gebe es wegen der vielen Haustarife und Einzelverträge jedoch nicht.

Zunehmender Konkurrenzdruck unter den Anbietern deutet auf eine weitere Verschlechterung der Lohnsituation und eine Zunahme geringfügiger Beschäftigung hin. Schon vor drei Jahren warnte das dip, dass 86 Prozent der Pflegedienste ihre unternehmerische Existenz gefährdet sähen. Seitdem gebe es keine positive Veränderung, die wirtschaftliche Situation mancher ambulanter Anbieter sei „verheerend“, sagt Isfort. Nach einer großen Welle von Existenzgründungen ab Mitte der 90er Jahre wachse die Zahl der Unternehmen inzwischen auch nur noch verhalten, merkt Hilbert an.

„Gerade finanziell ist es schwieriger geworden“, sagt PSB-Geschäftsführer Franke. Mit der Pflegeversicherung sei die finanzielle Deckung notwendiger Leistungen unsicherer geworden und der Verwaltungsaufwand immens gestiegen. „Das ist absolut kein lukrativer Wirtschaftszweig“, urteilt Claudia Franke, die das Unternehmen mit 30 Mitarbeitern 1993 gegründet und sich auf die Betreuung psychisch kranker Pflegebedürftiger spezialisiert hat. Mehr Pflegekräfte und Anbieter würden den Kampf um die schon viel zu schlecht ausgestatteten Pflegegeldtöpfe noch härter machen. Mit einer zunehmenden Zahl zu pflegender Menschen würde die aus Beiträgen finanzierte Pflegekasse ja nicht automatisch ansteigen, betont Martin Franke. Er erwartet eine zunehmende Monopolisierung und die Entstehung großer Unternehmensverbünde zu Lasten der kleinen Anbieter. „Für kleinere Dienste wird es noch schwerer werden.“

Den Trend zur Konzentration sieht auch Hilbert. Ein gut gemanagtes Unternehmen könne aber weiterhin schwarze Zahlen schreiben. Zudem gebe es noch viele Nischen, in denen sich kleinere Anbieter spezialisieren könnten. Das dip sieht zwiespältige Aussichten für den Wirtschaftsbereich Pflege: „Rote Zahlen bei rosa Zukunft“, prognostiziert Isfort.

Ulrike Schuler

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