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Keiner will sie haben, auch wenn sie deutsche Staatsbürger sind: IS-Kämpfer auf einem Propagandafoto.

© picture alliance / ZUMAPRESS.com

Rückkehr unerwünscht: Die Türkei will IS-Mitglieder nach Deutschland schicken

Die Türkei macht ernst: Schon am Montag will sie erste IS-Terroristen mit deutschem Pass ausfliegen lassen, darunter einen Berliner. Wie reagiert Deutschland?

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Ein deutscher Gewalttäter des „Islamischen Staates“ könnte schon an diesem Montag in die Bundesrepublik zurückkehren. Der Deutsch-Chinese Benjamin Xu, der vor fünf Jahren am ersten Mordanschlag des IS in der Türkei beteiligt war, sitzt in einem türkischen Gefängnis eine lebenslange Haftstrafe ab, doch Ankara will ihn loswerden. Xu soll deshalb auf ein Flugzeug nach Deutschland gesetzt werden.

Er stammt aus Berlin, dürfte deshalb auch in die Hauptstadt geflogen werden. Er ist einer von mehr als 1000 ausländischen IS-Kämpfern und Familienangehörigen, darunter 20 Deutsche, mindestens drei Österreicher und ein Schweizer, die in Gefängnissen in der Türkei und in türkisch kontrollierten Teilen von Syrien sitzen. Die Abschiebungen sollen heute beginnen.

Um wen handelt es sich bei den IS-Kämpfern?

Zusammen mit dem Schweizer Staatsbürger Cendrim Ramadani und dem Mazedonier Muhammed Zakiri hatte Xu im Jahr 2014 auf dem Rückweg aus Syrien nach Europa im zentralanatolischen Nigde zwei Polizisten und einen Zivilisten erschossen.

Der türkische Berufungsgerichtshof bestätigte im vergangenen Jahr die Haftstrafen gegen die drei IS-Mitglieder. Die Gesamtstrafe für Xu addiert sich demnach auf 179 Jahre und sechs Monate, bei den beiden Mitangeklagten sieht es ähnlich aus.

Deutschland und andere europäische Länder wollen Leute wie Xu nicht wieder aufnehmen, doch nicht nur das Gewalt-Trio aus Nigde könnte bald nach Europa heimkehren. Zu den Abschiebe-Kandidaten zählt auch der Brite Aine Lesley Davis, der an Enthauptungen ausländischer IS-Gefangener beteiligt gewesen sein soll und 2017 in der Türkei zu einer siebeneinhalbjährigen Terror-Strafe verurteilt wurde.

Davis war einer der vier als „Beatles“ bekannt gewordenen britischen IS-Extremisten, die laut Medienberichten mehr als zwei Dutzend Geiseln gefoltert oder getötet haben sollen.

Was treibt die Türkei an?
Die Türkei will Xu, Davis und die anderen nicht mehr haben. Nach Angaben von Innenminister Süleyman Soylu soll an diesem Montag mit der Abschiebung der ausländischen IS-Mitglieder begonnen werden – und zwar auch dann, wenn die Heimatländer ihnen die Staatsangehörigkeit entzogen haben.

„Das sind nicht unsere Leute, das sind eure“, sagte Soylu. Zuvor hatte der Minister bereits unterstrichen, die Türkei sei „kein Hotel“ für ausländische Extremisten.

Die türkischen Behörden haben sich einen genauen Überblick über die Abschiebe-Häftlinge verschafft. Insgesamt sind unter den 1172 IS-Häftlingen in türkischen Gefängnissen 750 Ausländer aus 40 Nationen, wie die regierungsnahe Zeitung „Yeni Safak“ meldete. Die überwiegende Mehrheit sind potenzielle IS- Kämpfer: 728 der Ausländer seien Männer, 22 Frauen.

Dem Zeitungsbericht zufolge sollen die in der Türkei rechtskräftig verurteilten IS-Leute ihre Strafen in ihren Heimatländern absitzen. Extremisten, deren Fälle noch nicht entschieden sind, sollen in ihren eigenen Ländern vor Gericht gestellt werden. Heimgeschickt werden sollen auch 287 ausländische IS-Mitglieder, die seit Beginn der jüngsten türkischen Militärintervention im Norden Syriens von der türkischen Armee gefasst wurden. Sie sitzen in Internierungslagern in türkisch kontrollierten Gegenden Syriens wie Afrin. Außerdem suchen türkische Soldaten in Syrien noch nach mehreren Hundert anderen IS-Gefangenen, die aus kurdisch bewachten Lagern entkommen sind.

In Europa herrsche Panik wegen der bevorstehenden Abschiebungen, kommentierte „Yeni Safak“. Dabei sind die europäischen IS-Gefangenen in türkischen Gefängnissen nicht einmal das größte Problem, das auf Europa zukommt. Weitere 1100 bis 1200 Europäer sitzen nach einer Schätzung des belgischen Außenpolitik-Instituts Egmont in kurdischen Lagern in Syrien und im Irak. Darunter seien 124 deutsche Erwachsene und 134 Kinder sowie drei Österreicher.

Wie ist die Lage in Syrien?

Die syrische Kurdenpolitikerin Ilham Ahmed rief die Europäer auf, eine 2000 Mann starke Schutztruppe aufzustellen. Die Soldaten sollten die syrisch-türkische Grenze sichern und dafür sorgen, dass keine IS-Leute heimlich über die Türkei die Heimreise antreten könnten, sagte Ahmet der Nachrichtenagentur Reuters.

Die Idee gleicht dem Plan von Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) zur Schaffung einer internationalen Schutzzone in Nordsyrien – und ist genauso unrealistisch wie Kramp-Karrenbauers Vorschlag. Die Türkei und auch die syrische Regierung lehnen den Einsatz einer solchen Truppe ab.

Die Egmont-Experten Thomas Renard und Rik Coolsaet raten den Europäern, sie sollten sich statt dessen mit dem Gedanken anfreunden, ihre radikalisierten Staatsbürger wieder aufzunehmen. Sollten die Kurden zum Beispiel die Kontrolle über die Internierungslager in Syrien verlieren, würden zumindest einige IS-Leute versuchen, heimlich in ihre Heimatländer heimzukehren, schrieben sie in einer Studie.

Eine geordnete Rückkehr sei wesentlich besser, um die Extremisten in Europa vor Gericht stellen und überwachen zu können. Wenn die türkische Regierung ihre Ankündigung von sofortigen Abschiebungen in die Tat umsetzt, werden die europäischen Länder bald damit beginnen müssen.

Wie steht die Bundesregierung zur Rücknahme von deutschen IS-Terroristen aus der Türkei?
Niemand in deutschen Sicherheitsbehörden freut sich auf die Rückkehr von deutschen IS-Helfern oder -Angehörigen, denn sie gelten weiterhin als Gefährder. Allerdings ist Deutschland rechtlich zur Rücknahme eigener Staatsbürger verpflichtet.

„Politisch will niemand IS-Anhänger zurücknehmen, rechtlich besteht bei deutschen Staatsangehörigen aber nun einmal die Verpflichtung, das zu tun“, sagt dazu Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD): „Davor können wir uns nicht drücken.“

Allerdings stellt die Bundesregierung Hürden auf. Eine Rückübernahme sei „nur möglich, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, eine gesicherte Identität vorliegt und auch geprüft ist, ob und in welcher Weise die Personen in Deutschland gegebenenfalls eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellen können“, erklärte das Innenministerium vergangene Woche.

Die Türkei empfindet das offenbar als Hinhaltetaktik. Außenminister Heiko Maas (SPD) kritisierte vor wenigen Tagen, die Türkei bleibe konkrete Informationen zu den IS-Anhängern schuldig. „Es müsste erst einmal rechtssicher festgestellt werden, dass es sich um deutsche Staatsbürger handelt“, sagte er.

Die FDP forderte die Bundesregierung auf, sich deutlicher zu ihrer Rücknahmepflicht zu bekennen. „Wir können nicht erwarten, dass andere Länder ihre Staatsbürger aus Deutschland zurücknehmen, wenn wir dies nicht auch mit Deutschen tun“, sagte Fraktionsvize Stephan Thomae dem Tagesspiegel. Auch unter Sicherheitsgesichtspunkten sei es grundsätzlich vorzuziehen, Deutsche Straftäter bei uns im Inland unter Kontrolle zu haben.

Sind die deutschen Sicherheitsbehörden auf die Rückkehr vorbereitet?

Das versichern sie zumindest. Die Überwachung von IS-Rückkehrern sei „ärgerlich, aufwendig und kostet viel Geld“, sagt Pistorius. Vor allem drängt die Bundesregierung darauf, dass in Fällen bislang nicht verurteilter IS-Täter von der Türkei Informationen geliefert werden, damit diese in Deutschland vor Gericht gebracht werden können.

Vergangene Woche verurteilte das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg Deutschland dazu, eine Mutter mit ihren drei kleinen Kindern aus einem syrischen Lager zurückzuholen, die IS-Anhängerin ist. Das Auswärtige Amt hatte zuvor die Rückholung der Kinder in die Wege geleitet, die der Mutter aber abgelehnt, da diese als IS-Anhängerin deutsche Sicherheitsbelange gefährde. Das Gericht hielt das Kindeswohl für wichtiger als die mögliche Gefährdung durch die Mutter.

Auf die jüngste Ankündigung aus Ankara will die Bundesregierung nicht reagieren, solange die Rückführung nicht offiziell angekündigt ist. „Nach Kenntnis des Bundesinnenministeriums liegt bislang keine behördliche Ankündigung dieser Art vonseiten der Türkei vor“, sagte ein Sprecher dem Tagesspiegel am Sonntag. Eine Vorankündigung von Rückführungsmaßnahmen entspreche dem üblichen Verfahren zwischen den betroffenen Ländern.

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