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Politik: "Rußland ist nicht die Titanic, Rußland ist der Eisberg"

TAGESSPIEGEL: Der Krieg in Jugoslawien wird immer dramatischer.Und immer deutlicher wird die Schlüsselrolle Rußlands.

TAGESSPIEGEL: Der Krieg in Jugoslawien wird immer dramatischer.Und immer deutlicher wird die Schlüsselrolle Rußlands.

RUGE: Es ist schon ein Zeichen gewisser Ratlosigkeit, daß der Westen jetzt auf einmal merkt, eine Lösung des Konflikts funktioniert nicht ohne die Russen.Ohne die Russen wird es aber keine grundsätzliche Regelung auf dem Balkan geben.Das Hauptproblem scheint mir zu sein, daß sich die diplomatischen Beziehungen zwischen Rußland und dem Westen in den letzten Jahren stark abgekühlt haben.Die Kontakte zu Rußland bekamen nach dem Ende der Sowjetunion, auch für Deutschland, eine immer geringere Bedeutung.Es gab früher ein dichtes Netz von unterschiedlich gelagerten deutsch-russischen Beziehungen, etwa in Sachen Außenpolitik, sogar auf dem Gebiet der Forschung und Wissenschaft, oder auch in Militärangelegenheiten.Der Wegfall solcher Kontakte ist in Krisenzeiten gefährlich: Man verliert die Fähigkeit miteinander zu reden.In Deutschland gab es wenigstens noch halbprivate Bemühungen und den persönlichen Draht zwischen Jelzin und Kohl.Jetzt ist das auch vorbei.Ich weiß aus vielen Gesprächen mit Russen, daß man von der Regierung Schröder enttäuscht ist.

TAGESSPIEGEL: Verteidigungsminister Scharping hat wiederholt erklärt, er glaube nicht an eine dramatische Reaktion Rußlands, weil das Land nicht die guten Beziehungen zu den USA belasten werde.Nach dem Motto: Die bleiben brav, weil sie auf unser Geld angewiesen sind.

RUGE: Ich wäre mit diesem Argument ein bißchen vorsichtiger.Denn der Westen gibt seine Gelder ja in erster Linie nicht aus Freundschaft, sondern aus deutlichem Eigeninteresse.Wenn es in Rußland zu einem Zusammenbruch der Finanzmärkte kommt, wie es sich im letzten Sommer ja schon mal angedeutet hatte, hängt der Westen mittendrin.Das wäre nach der Asienkrise die nächste große Wirtschaftskrise.Daran kann niemand Interesse haben.Außerdem zahlen die Russen von den Krediten ihre Schulden zurück.Ich denke nicht, daß Rußland auf diesem Gebiet erpreßbar ist.Ich halte es für falsch, wenn man sagt, die Russen werden sich schon anständig benehmen, sonst bekommen sie kein Geld mehr.Entscheidungen über so große und emotionsgeladene Fragen sind keine Sache des Geldes.

TAGESSPIEGEL: Warum sind die Kontakte zwischen Rußland und dem Westen derart dünn geworden?

RUGE: Die große Konfrontation war auf einmal nicht mehr da.1991 und später herrschte doch das Gefühl: Das Ende des Kalten Krieges bedeutet irgendwie auch das Ende der Geschichte.Der Westen ist der große Sieger, und über kurz oder lang werde sich Rußland auch in eine liberale, marktwirtschaftliche, parlamentarische Gesellschaft verwandeln.Bis dahin bleibe es eine machtlose Trümmerlandschaft.Warum soll man sich dann noch mit dem alten Rußland um eine partnerschaftliche Beziehung kümmern? In dieser Haltung ist schon ein beachtlicher westlicher Hochmut zu spüren.Aber jetzt merkt man plötzlich, daß alles nicht so läuft, wie man dachte.

TAGESSPIEGEL: Die Bombenangriffe der NATO haben dafür gesorgt, daß der Antiamerikanismus in Rußland wieder neue Blüten treibt.

RUGE: Diese Stimmung gibt es schon seit längerem, eine Verbitterung über die Politik der NATO in den letzten zehn Jahren.Bei vielen Russen findet man die Vorstellung, daß die NATO nach der Auflösung des Warschauer Paktes den guten Willen Rußlands ausgenutzt hat.Dazu passen natürlich die Bombenangriffe gegen die Serben.Ob nun die überwiegende Mehrheit der Russen anti-amerikanisch eingestellt ist, kann man nicht sagen.Aber klar ist, diese Ressentiments wachsen.

TAGESSPIEGEL: Wie realistisch ist Ihrer Meinung nach die Gefahr, daß Rußland aktiv in den militärischen Konflikt eingreift und sich auf die Seite der Serben schlägt?

RUGE: Ich habe diese Frage in den letzten Tagen mit Leuten in Moskau diskutiert, mit Leuten, die nahe an der Macht sind.Sie sind mir ausgewichen.Wollt Ihr wirklich den Dritten Weltkrieg riskieren? Nein, natürlich nicht, heißt es dann.Aber was ist, sagen sie, wenn die NATO Bodentruppen einsetzt? Dann müssen wir etwas machen.Wie auch immer, ich habe nicht herausgefunden, welche Möglichkeiten die Russen haben.Aber sie können natürlich schon eine ganze Menge tun, lange bevor sie Truppen mobilisieren.Sie könnten zum Beispiel die Öllieferungen an Belgrad wieder aufnehmen.Würde dann die NATO einen russischen Tanker, der die Donau hinauffährt, bombardieren? Oder was ist, wenn die Russen den Serben neue, modernere Boden-Luftraketen liefern?

TAGESSPIEGEL: In Rußland sind fast ausschließlich scharfe Töne zu vernehmen.Was für eine Rolle hat Jelzin?

RUGE: Er hat die Macht, immer noch.Und er nutzt sie auch, das hat er gerade jetzt wieder bewiesen.Das ist die seltsame Lage, die man im Westen so schwer versteht.Sicher ist Jelzin krank, aber für die Machtbalance in Rußland ist er die entscheidende Figur.Die radikalen Figuren wie Schirinowskij oder Sjuganow wissen genau, daß sie ohne größere Konsequenzen fordern und in der Duma beschließen können was sie wollen, weil ja ein Jelzin da ist, der die Entscheidungen trifft.So treten sie radikaler auf, als sie vielleicht sogar sind.Das ist auch eine Art Spiel, das erst zu Ende geht, wenn Jelzin nicht mehr da ist.

TAGESSPIEGEL: Wer kommt nach Jelzin?

RUGE: Das weiß derzeit niemand.Vielleicht Sjuganow, vielleicht Luschkow, der Moskauer Bürgermeister, vielleicht General Lebed, vielleicht doch Primakow.Aber hinter allen stehen große Fragezeichen.Vielleicht taucht auch noch jemand auf, den bislang noch niemand auf der Rechnung hat.Es gibt zum Beispiel verschiedene Gouverneure, die sehr klug sind.Einer von denen hat gesagt, der Westen muß sich eines merken: Rußland ist nicht die Titanic, Rußland ist der Eisberg.Neuerdings heißt es in Westeuropa: "Wir müssen die Russen ins Boot holen." Aber die Russen wollen dann nicht nur rudern, sie wollen auch mitsteuern.Das muß man wissen und dann auch sagen.

TAGESSPIEGEL: Was sagen Sie zu dem Vorwurf, die deutschen Medien transportieren mit ihren Bildern nicht die Wahrheit, sondern ein Stück Kriegspropaganda?

RUGE: Eine gewisse Skepsis ist sicher angebracht.Und vielleicht sind manche Berichte zu wenig distanziert.Aber bei aller, manchmal auch berechtigten Medienkritik darf man natürlich nicht vergessen, daß etwa achtzig Prozent der Bilder und Berichte stimmen.Die Tragödie, die man da jeden Abend als Zuschauer sieht, ist schon die wirkliche Tragödie.

TAGESSPIEGEL: Was fällt dem Fernsehzuschauer Ruge bei diesem Krieg auf?

RUGE: Die Sprache der Politiker.Zum Beispiel: humanitäre Katastrophe.Was ist das für ein schreckliches Wort, aber es hat sich überall durchgesetzt.Ich finde die Vergleiche mit dem Zweiten Weltkrieg sehr schlimm.Holocaust oder Konzentrationslager - Fischer oder Scharping nahmen diese Worte in den Mund.Man will damit einen Vergleich zur Nazi-Zeit bemühen: Hätte der Westen damals früher eingegriffen, wären nicht so viele Juden vergast worden.Aber dieser historische Rückgriff ist beschämend.Man kann Milosevic einen Verbrecher nennen, aber ein Hitler ist er nicht.Und er hat auch nicht den Dritten Weltkrieg angefangen.Das ist eine maßlose Übertreibung seiner Person.Die Gleichsetzung Holocaust und Kosovo kann schließlich dazu führen, daß man fast alles machen darf.Und das finde ich sehr gefährlich.

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