zum Hauptinhalt
Dmitri Medwedew

© dpa

Russland: Medwedew interviewt sich selbst

Russlands Präsident gibt sich selbstkritisch – doch Zweifel an seinem tatsächlichen Reformwillen bleiben.

Dmitri Medwedew musste das Zepter in die eigenen Hände nehmen, um seinen politischen Jahressrückblick zu retten. Obwohl der Pressedienst des Kremls am 24. Dezember die Chefs der überregionalen TV-Kanäle – alle drei sind staatlich oder staatsnahe – persönlich bemüht hatte, damit die richtigen Fragen gestellt werden.

Doch die Frager waren offenbar nicht ganz auf der Höhe ihrer Mission und nervten mit Small Talk: Die mangelnde Performance der Fußball-Nationalmannschaft, deren Spieler sich die WM ein weiteres Mal vom Sofa im eigenen Wohnzimmer ansehen werden; die musikalischen Vorlieben des Kremlherrschers, und so weiter und so weiter.

Katastrophen blieben außen vor: Der Brand in der Diskothek in Perm, bei der mehr als 150 Menschen starben; der Unfall im größten Wasserkraftwerk des Landes im August, der um Haaresbreite zur Überflutung ganzer Landstriche Mittelsibiriens geführt hätte; der Sprengstoffanschlag auf einen Schnellzug, der zwischen Moskau und St. Petersburg unterwegs war; volltrunkene Polizisten, die im Supermarkt um sich ballerten, mit Vollgas über den Zebrastreifen oder in Buswartehäuschen rasten, Rentner oder schwangere Frauen krankenhausreif prügelten und von den Russen laut Umfragen von Meinungsforscher mehr gefürchtet werden als Raubmörder.

Des Planschens in seichten Gewässern sichtbar überdrüssig lenkte der russische Präsident das Gespräch schließlich selbst auf Brisanteres: auf die wirtschaftliche und politische Modernisierung Russlands als Voraussetzung für ein fünfprozentiges Wachstum des Bruttoinlandproduktes 2010 nach dem krisenbedingten Absturz der vergangenen beiden Jahre. Auf abhängige Gerichte und flächendeckende Fälschungen bei den Regional- und Kommunalwahlen im Oktober. Sogar mit der nicht mehr im Parlament vertretenen liberalen Opposition setzte er sich dabei auseinander, machte für deren Marginalisierung allerdings nur taktische Fehlleistungen ihrer Führer, nicht jedoch das derzeitige politische System verantwortlich.

Schließlich kündigte er eine Reform des russischen Strafvollzugssystems an. Dort habe sich „seit Jahrzehnten nichts geändert“. Der derzeitige Strafvollzug, „der noch auf Stalins Konzentrationslager zurückgeht“, solle durch ein milderes System abgelöst werden. Als Ziel nannte der Präsident Haftbedingungen wie in der „zivilisierten Welt“ im Westen. Auch Polizei- und Justizwesen des Landes müssten auf den Prüfstand. Teilweise sei die Gesetzgebung unnötig hart. Es gebe Menschen, die wegen des Diebstahls eines 500 Rubel (elf Euro) teuren Huts zwei Jahre ins Gefängnis müssten, bemängelte der Staatschef.

Das und die Tatsache, dass Ministerpräsident Wladimir Putin, der sich bei seiner Bürgersprechstunde Anfang Dezember an nahezu den gleichen Themen abarbeitete, sich dafür aber mehr als drei Stunden Sendezeit genehmigte, während Medwedew mit einer Stunde und zwanzig Minuten auskam, spricht aus Sicht kritischer Beobachter erneut Bände über die reale Teilung der Kompetenzen zwischen Präsident und Premier. Dieser hat sich laut Verfassung und Staatsdoktrin um das Tagesgeschäft zu kümmern, von ihrem Herrscher erwartet die Nation dagegen strategische Entscheidungen und deren Vollzug. Erwartungen, die Medwedew, obgleich er fast die Hälfte seiner Legislaturperiode schon hinter sich hat, bisher nicht erfüllte.

Auch nach seinem durchaus kritischen Jahresrückblick, das fürchten Beobachter wie Dmitri Oreschkin vom Forschungszentrum Mercator und einstige Größen der Jelzin-Ära, werde kein Ruck durch das Land gehen. Unabhängige Meinungsforscher kommen zu dem gleichen Schluss. Mehr als 60 Prozent aller befragten Bürger Russlands tendieren demnach zu politischem Desinteresse.

Und selbst dem Präsidenten zunächst wohlgesinnte Experten wie Lilija Schewzowa von der Moskauer Carnegie-Stiftung, die sich lange verzweifelt bemühten, Medwedews vorsichtige Lockerungsübungen zum Fanal für den großen Aufbruch umzudeuten, haben sich von ihrem Optimismus inzwischen distanziert und alle Hoffnungen auf Liberalisierung fahren lassen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false