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Politik: Russland: Putin - Doktor und Diktator (Leitartikel)

Es ist die steilste Karriere des Jahres. Als Boris Jelzin ihn am 9.

Es ist die steilste Karriere des Jahres. Als Boris Jelzin ihn am 9. August 1999 zum Ministerpräsidenten ernannte, war Wladimir Putin ein unbeschriebenes Blatt. Selbst in Russland kannten ihn allenfalls die Petersburger näher: als rechte Hand des Reformbürgermeisters Anatolij Sobtschak. Putin war bereits der dritte Premier von Jelzins Gnaden innerhalb eines halben Jahres. Sollte man sich den Namen überhaupt merken? Ein Jahr später ist das noch nicht einmal mehr eine rhetorische Frage: Der ehemalige KGB-Agent ist der mächtigste Politiker des größten Staats der Erde. Aber mit ebenso großen Problemen, von der Armut bis zum Terror.

Der Bombenanschlag in Moskau erinnert daran, womit Putins Aufstieg begann: mit dem zweiten Tschetschenienkrieg. Dennoch hofieren ihn die westlichen Staatsmänner. Weil sie ihn als handlungsfähiges Gegenüber brauchen. Das ist ein Fortschritt: Nicht Krankenbulletins bestimmen heute die Nachrichten aus dem Kreml. Russland hat ein neues Gesicht. Nicht maskenhaft mit fahler Hautfarbe und roboterähnlicher Sprechweise, sondern lebendig, jungenhaft - Putin kann so charmant lächeln wie einschüchternd kalt wirken. Und das ist Realpolitik: Wichtiger als Tschetschenien ist den Regierungen in Berlin, London und Washington, dass der 47-Jährige dem russischen Patienten aufhilft, dass er vielleicht sogar dabei ist, ihn zu kurieren. Doktor Putin auf Visite. Er verspricht Rechtsstaat, Steuergerechtigkeit, faire Chancen für westliche Investoren und neue Abrüstungs-Verträge, mehr Demokratie und Marktwirtschaft nach der Stagnation der letzten Jelzin-Jahre.

Putin, der Therapeut? Oder doch Putin, der Diktator, der böse Absichten tarnt durch charmante Plaudererei? Der französische Philosoph André Glucksmann hat nach einer Reise durch das tschetschenische Kriegsgebiet gewarnt, die Welt erlebe womöglich die "Geburtsstunde des größten Schurkenstaates des 21. Jahrhunderts". In dem Vernichtungsfeldzug gehe es nicht nur um Russlands Vorherrschaft im Kaukasus, sondern um die Einschüchterung jeglicher Opposition: So könne es allen gehen, die sich dem Diktator in den Weg stellen.

In jedem Falle hinterlässt Putin zwiespältige Gefühle. Auch sein Kampf mit den Oligarchen: Vordergründig geht es um den Verdacht der Steuerhinterziehung. Zugleich aber dient das als Vorwand, um mit Verhaftungen und Durchsuchungen die Medien zu knebeln, die nicht direkt dem Kreml unterstehen. Zu Wochenbeginn hat Putin mit einem Gesetz zur Stärkung der Präsidialmacht den Gouverneuren der Regionen Einfluss auf die Moskauer Politik genommen.

Putin betreibt Machtpolitik mit Methode. Geschickt suchen seine spin doctors Politikfelder, auf denen tatsächlich vieles im Argen liegt - um dann Gegenmaßnahmen vorzuschlagen, die die Macht des Präsidenten stärken. Drei Beispiele für die Art, wie er argumentiert und vorgeht. Tschetschenien: Es waren die islamischen Rebellen, die den Kampf vor einem Jahr nach Dagestan trugen. Ja, musste sich Moskau da nicht wehren? Auch das Ausland kann doch kein Interesse haben, dass Russland destabilisiert wird ... Und morgen dient der Bombenanschlag womöglich als Begründung für schärfere Gesetze. Steuern: Jelzin hatte einen Augiasstall hinterlassen, ständig wechselten die Vorschriften, seine Freunde genossen fragwürdige Privilegien, dem Staat fehlten die Einnahmen. Welche Erleichterung, wenn künftig Verlässlichkeit und Transparenz gelten, dazu ein linearer Einkommenssteuersatz von nur 13 Prozent! Müssen da nicht auch Kapitalisten applaudieren? Entmachtung der Gouverneure: Putin tut das nur ungern, nicht wahr, er teilte doch die Hoffnung des Westens, Russlands Erneuerung könne aus aufstrebenden Regionen wie Nishnij Nowgorod, Jekaterinburg oder Petersburg kommen. Aber wie die Dinge liegen, muss nicht erst die Autorität des Staates wiederhergestellt werden? Genau so will er seinen Kritikern die Angriffsflächen nehmen.

Der gute Doktor Putin: Man darf nicht zu viele seiner Beruhigungspillen schlucken. Das macht schläfrig, trübt den Blick. Der Westen sollte wachsam sein. Demokratie oder Diktatur, Therapeut oder Schurke, noch ist nichts entschieden. Nicht für Russland, nicht für Putin. Es ist ja nur sein erstes Jahr an der Macht.

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