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 Der russische Verteidigungsminister Sergei Sergei Shoigu (r.) und der General der „Militäroperation“ in der Ukraine Sergei Surovikin (l.) bei einem gemeinsamen Treffen.

© Imago/Itar-Tass/Russian Defence Ministry

Russlands neuer Top-General: Sergej Surowikin ist kompetenter als seine Vorgänger – was das für den Krieg bedeutet

Russlands Kommandeure agierten bisweilen planlos. Den neuen Befehlshaber für den Angriffskrieg in der Ukraine sollte man jedoch nicht unterschätzen, sagt ein australischer Ex-General.

Der geordnete Rückzug gilt als eine besonders heikle Militäroperation. Nicht wenige Experten und Beobachter gingen deswegen davon aus, dass die Aufgabe der Stadt Cherson für die russischen Truppen, die zuvor immer wieder unter der miserablen Führung ihrer Befehlshaber zu leiden hatten, kaum ohne größere Verluste möglich sein würde.

Schließlich mussten die Truppen dabei den Fluss Dnjepr überqueren und operierten dabei teilweise in Reichweite der ukrainischen Himars-Raketenssysteme.

Dass es anders kam, dafür dürfte vor allem Sergej Surowikin verantwortlich gewesen sein. Der neue russische Kommandeur war nach der Explosion der Krim-Brücke vier Wochen zuvor eingesetzt worden und sollte die für Russland desolate Lage an der Front stabilisieren.

„Surowikin scheint fähiger zu sein als seine Vorgänger, denn der Abzug verlief deutlich geordneter als in Charkiw im September“, sagte der australische Ex-General Mick Ryan im Interview mit dem Tagesspiegel. Für die Ukraine sei das eine wichtige Erkenntnis mit Blick auf zukünftige militärische Operationen.

Wie Surowikin in den kommenden Monaten das Kriegsgeschehen verändern könnte, darüber hat Ryan nun eine detaillierte Analyse verfasst.

Russlands Präsident Wladimir Putin wird sich in Zukunft gewiss nicht mit geordneten Abzügen zufriedengeben. Was Surowikin mittelfristig vorweisen muss, sind Erfolge in der Offensive, gepaart mit der Verteidigung der bisher eroberten Territorien. Kann das gelingen? Und im Umkehrschluss: Worauf muss die Ukraine in Zukunft verstärkt achtgeben?

1 Russlands Luftwaffe ist derzeit (noch) keine Bedrohung

Seit Beginn des Angriffskriegs ist es Russland nicht gelungen, die Lufthoheit in der Ukraine zu erlangen und so die zahlenmäßige Überlegenheit seiner Luftflotte auszuspielen. Grund sind die dank westlicher Waffenlieferungen noch immer aktiven Flugabwehrsysteme der Ukraine.

In einem aktuellen Bericht warnt das renommierte Royal United Services Institute (RUSI) jedoch vor den Konsequenzen, sollten die Nachschublieferungen aus dem Westen weniger werden. „Wenn die ukrainischen Flugabwehrsysteme nicht mit neuer Munition versorgt und mit der Zeit durch gleichwertige westliche Systeme ergänzt und ersetzt werden, wird die russische Luftwaffe wieder eine größere Bedrohung darstellen“, heißt es dort.

Ein russischer Kampfjet des Typs MIG-29
Ein russischer Kampfjet des Typs MIG-29

© Imago/Tass/Lev Fedoseyev

Für Surowikin ein möglicher militärstrategischer Anknüpfungspunkt, glaubt Ex-General Ryan. Dass der russische Kommandeur seit 2017 bereits für die russischen Luftstreitkräfte verantwortlich ist, „dürfte ihm ein besseres Verständnis für deren Einsatz verschafft haben als den meisten anderen Kommandeuren im Land“.

Sollte Russland seine Kampfflugzeuge tatsächlich in höherer Frequenz starten lassen können, wären Auswirkungen auf das Kriegsgeschehen massiv. Bodenoperationen ließen sich dadurch beispielsweise besser vorbereiten, indem ukrainische Versorgungsrouten und Überwachungsanlagen gezielt unter Beschuss genommen werden könnten.

2 Schnelle, konzentrierte Truppenbewegungen

Der Frontverlauf in der Ukraine erstreckt sich über fast 1000 Kilometer. Weite Abschnitte sind daher nur spärlich durch Soldaten gesichert. Die Konsequenz: Offensive Erfolge kann vor allem die Kriegspartei erzielen, die schnell und möglichst unbemerkt Truppen an einem Ort zusammenziehen kann.

Der Ukraine gelang das bisher deutlich besser. Die größeren Geländegewinne der vergangenen beiden Offensiven lassen sich vor allem dadurch erklären, dass die russischen Truppen nicht schnell genug repositioniert werden konnten.

Zwei ukrainische Soldaten stehen in der Nähe der Frontlinie in Donezk.
Zwei ukrainische Soldaten stehen in der Nähe der Frontlinie in Donezk.

© dpa/Roman Chop

Um selbst in die Offensive gehen zu können, analysiert Ryan, müsse Russland seine zahlenmäßige Überlegenheit in koordinierte und konzentrierte Angriffe übersetzen. Sowohl die schlechte taktische Ausbildung der neuen Rekruten als auch ihre mangelhafte Ausrüstung würden ein solches Vorhaben zwar erschweren.

Doch eine Ausweitung der Mobilisierung sowie der russischen Kriegswirtschaft könnten Surowikin mittelfristig neue Optionen eröffnen. Helfen würde auch hier zudem eine stärkere Präsenz der russischen Luftwaffe.

Mit ihrem dichten Aufklärungsnetz ist die Ukraine bisher in der Lage, Truppenaufmärsche auf große Entfernung aufzuspüren und anzugreifen.

Mick Ryan, früherer General der australischen Streitkräfte

„Mit ihrem dichten Aufklärungsnetz ist die Ukraine bisher in der Lage, Truppenaufmärsche auf große Entfernung aufzuspüren und anzugreifen. Die Zeit von der Lokalisierung bis zur Zerstörung beträgt in der Ukraine insbesondere bei relevanten Zielen wie Logistikknotenpunkten, Gefechtsständen und Truppenkonzentrationen etwa drei bis fünf Minuten“, schreibt General Ryan in seiner Analyse. Eine Vormachtstellung in der Luft zu etablieren, sei für Surowikin daher essenziell, um Lücken in die ukrainische Aufklärung zu reißen.

3 Russland fehlen die Offiziere

Neben alledem bereiten der russischen Armee vor allem die hohen Verluste unter ihren Offizieren Probleme. Einen Hinweis darauf, wie viele Befehlshaber davon durch ukrainische Angriffe ums Leben kamen, liefert die Internetseite Topcargo200

477 Militärs höheren Dienstgrades starben demnach seit Invasionsbeginn. Zwar handelt es sich nicht um offizielle Angaben, doch auch westliche Geheimdienste berichteten regelmäßig über die hohen Verluste im russischen Offizierskorps.

In der Folge agieren die einzelnen russischen Teilstreitkräfte bisher häufig unkoordiniert. „Insbesondere bei der Durchführung von Luft-Land-Operationen gibt es Raum für Verbesserungen“, sagt Militär-Experte Ryan. Über den Winter werde Russlands neuer Kommandeur deswegen wohl alles daransetzen, die Ausbildung neuer Offiziere voranzutreiben.

Und auch auf höheren militärischen Ebenen rechnet der australische Ex-Genral mit Personalrochaden. „Surowikin wird sicherstellen wollen, dass seine militärischen Führungskräfte in der Lage sind, die russischen Operationen 2023 effektiv zu führen“, glaubt Ryan.

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