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Sacharow-Preis: Der Geehrte muss vor Gericht

Tschetscheniens Präsident verklagt Sacharow-Preisträger Orlow. Die Klage erregt Aufsehen. Nie zuvor hat ein russisches Gericht bei Verleumdung über derartige Summen verhandelt.

Russlands Machthaber wollten ihren Kritikern die Freude über den verliehenen Sacharow-Preis wohl „vermasseln“ – so kommentierte der russische Dienst von US-Auslandssender Radio Liberty (RFL) die Nachricht, wonach der Chef der Bürgerrechtsorganisation „Memorial“, Oleg Orlow, sich nun doch noch in einem Strafprozess wegen Verleumdung verantworten muss. Kläger ist Tschetschenenpräsident Ramzan Kadyrow. Ihm hatte Orlow den Mord an Natalja Estemirowa Mitte Juli angelastet, einer tschetschenischen Mitarbeiterin von „Memorial“. Seine Vorwürfe hatte Orlow mit öffentlichen Beleidigungen und Drohungen Kadyrows gegen Estemirowa begründet.

Ergrimmt hatte dieser daraufhin zunächst bei „Memorial“ angerufen und einen Widerruf auf der Website der Organisation gefordert. Orlow lehnte ab, worauf Kadyrow vor Gericht zog, wo er Orlow wegen Verleumdung verklagte und von „Memorial“ eine Entschädigung in Höhe von zehn Millionen Rubel (ca. 220 000 Euro) verlangte.

Die Klage erregte im In- und Ausland Aufsehen. Nie zuvor hat ein russisches Gericht bei Verleumdung über derartige Summen verhandelt. Und nie zuvor standen sich dort Vertreter derartig unterschiedlicher Gewichtsklassen gegenüber: Kadyrow ist seit der Befriedung Tschetscheniens der mit Abstand einflussreichste Provinzfürst und persönlicher Günstling Putins.

Dennoch sah es zunächst nach Sieg von „Memorial“ und Orlow aus. Zuerst schmetterte das zuständige Gericht in Moskau Kadyrows Forderung nach einem Strafprozess ab. Und bei der zivilrechtlichen Klage, die am 6. Oktober verhandelt wurde, ging es um erheblich moderatere Beträge. 70 000 Rubel (ca. 1 800 Euro) sollte Orlow an Kadyrow als Bußgeld zahlen. Beide legten Berufung ein. Kadyrow, weil er seine Ehre und Würde als zu niedrig kalkuliert sah, Orlow im Namen der Meinungsfreiheit. Er und unabhängige Beobachter glaubten fest an einen Sieg in zweiter Instanz, dies auch, weil Präsident Dmitri Medwedew immer häufiger mit Kritik am gegenwärtigen Zustand von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie aus der Deckung kommt. Der Beschluss, sagte Orlow russischen Medien, habe keine rechtliche Grundlage, sondern folge der Aufforderung „politischer Figuren“.

Ähnlich sah das auch Ludmila Alexejewa, die Chefin der Moskauer Helsinki- Gruppe und wie Orlow mit dem Sacharow-Preis ausgezeichnet: Würde ein unabhängiges Gericht den Streit verhandeln, könnte sie dem Urteil gelassen entgegensehen. Russische Gerichte aber seien nicht unabhängig und würden im Rechtsstreit zwischen Bürgern und staatlichen Amtsträgern meist diesen folgen. Je hochrangiger sie sind, desto häufiger.

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