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Sahra Wagenknecht, Fraktionsvorsitzende der Linken im Deutschen Bundestag.

© Michael Kappeler/dpa

Sammlungsbewegung von Wagenknecht und Lafontaine: Linke Dialektik gegen rechte Parolen

Wagenknecht und Lafontaine werden im September die neue Sammlungsbewegung gründen. Einer der Vordenker und Unterstützer im Hintergrund ist der Dramaturg Bernd Stegemann vom Berliner Ensemble.

Bernd Stegemann ist kein Revolutionär, sondern Dialektiker. Aber an diesem heißen Tag Mitte Mai sitzt der Autor und Professor für Dramaturgie im Garten des Berliner Ensembles (BE) und sagt: „Sahra Wagenknecht hat so viele politische Talente, sie ist klug, klar, analytisch und kann jeden politischen Diskurs prägen. Das muss man jetzt mal in Machtpolitik umsetzen.“

Stegemann arbeitet als Dramaturg im BE und lehrt an der Ernst-Busch-Hochschule für Schauspielkunst. Er sitzt bei knapp 30 Grad auf seinem Holzstuhl im Schatten mit einem Gesicht, das vor allem Neugierde zeigt, schelmisch sieht es zudem aus, als würde Karlsson vom Dach, der weltbeste Dialektiker, mal wieder einen Streich planen.

In gewisser Weise ist das auch so. Denn Stegemann hat es satt, immer nur klug daherzureden und daherzuschreiben, was er in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ oder der „Zeit“ oft macht. Er hat sich nun entschlossen, der von Sahra Wagenknecht und ihrem Ehemann Oskar Lafontaine angedachten linken Sammlungsbewegung beizutreten. Er grinst: „Weiß selbst nicht so genau, was da meine Rolle ist.“ Ein Satz als ironisches Understatement. Denn seine Rolle ist die des intellektuellen Vordenkers. Dementsprechend selbstbewusst gibt sich Stegemann, wenn er sagt, dass die linke Idee wieder eine Erzählung brauche, die für mehr Menschen als bisher attraktiv werden müsse.

Stegemann fordert einen schlauen, linken Populismus

Der fast 50-jährige Philosoph und Theatermann ist einer breiten Öffentlichkeit vielleicht weniger bekannt, aber er gehört seit einiger Zeit zu denen, die sich einmischen in die gesellschaftlichen Debatten. Vor allem hat er mit seinen Texten die Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag beeindruckt und beeinflusst. Es fing an mit einem Text über die Flüchtlingspolitik in der „Zeit“. Mit Hilfe Bertolt Brechts Drama „Der gute Mensch von Sezuan“, das von Moral und Überleben handelt, verfasst Stegemann eine Parabel auf die deutsche Flüchtlingspolitik und Willkommenskultur.

Er schreibt: „Nur wenn es gelingt, die ökonomischen Folgen der Globalisierung von den moralischen Forderungen der Gewinner der herrschenden Ordnung zu trennen, kann eine realistische Politik entstehen.“ Und weiter: Wer eine Willkommenskultur fordere, ohne über die Eigentumsverhältnisse zu sprechen, „verschweigt die Hälfte der Wahrheit“. Wagenknecht verlinkt den Text auf ihrer offiziellen Homepage. Ein Jahr später erscheint sein Buch „Das Gespenst des Populismus“, in dem der gelernte Luhmanianer Stegemann den rechten und den liberalen Populismus der Mehrheitsgesellschaft wie ein Chirurg oder eben wie der Systemtheoretiker Niklas Luhmann seziert, um einen Gegenentwurf zu fordern: einen linken Populismus. Es gibt viele kluge Sätze in diesem Buch, das vor allem die „Linken“ vehement auffordert, wieder ins Denken zu kommen, anstatt Abwehrschlachten gegen rechts zu führen.

Einer dieser Sätze lautet: „Noch immer bezieht der liberale Populismus für seine Forderungen nach Freiheit und Individualismus seine Überzeugungskraft daraus, dass nicht erkannt wird, wie der liberale Freiheitsbegriff mit dem neoliberalen Freiheitsbegriff im Widerspruch steht.“ Freiheit bedeute heute eben nicht mehr individuelle Freiheit, sondern Deregulierung des Kapitals und Flexibilität des Menschen.

Bernd Stegemann, Philosoph, Autor und Professor an der Ernst-Busch-Schauspielschule, zudem Dramaturg am Berliner Ensemble.
Bernd Stegemann, Philosoph, Autor und Professor an der Ernst-Busch-Schauspielschule, zudem Dramaturg am Berliner Ensemble.

© Imago

Es geht Stegemann um Klarheit hinter den vermeintlichen Wahrheiten, auch hinter den Abwehrreflexen der Mehrheitsgesellschaft gegen Parolen und Forderungen der neuen Rechten. Stegemann schreibt: „Der Vorwurf des Ressentiments ist heute der bevorzugte Ausdruck für den Rassismus der Eliten gegen alle, die gegen sie revoltieren.“ Er entlarvt die Doppelmoral der heutigen Debatten, beispielsweise schlage das liberale Milieu bei jedem Anschein eines rassistischen Satzes Alarm, habe aber selbst „keinerlei Hemmungen, über die ‚dummen' Wähler, die für die AfD, Donald Trump oder den Brexit stimmen, zu schimpfen“. Wollte man das Buch auf eine Kernbotschaft reduzieren, lautete sie ein wenig altmodisch: Die Verhältnisse sind schuld! Nicht „Race und Gender“ müssten im Mittelpunkt stehen, sondern der von der liberalen Gesellschaft ignorierte „Klassengegensatz“.

Irgendwann Anfang des Jahres klingelt bei Stegemann das Telefon, am anderen Ende meldet sich Sandy Stachel, die Büroleiterin von Sahra Wagenknecht im Bundestag, die eine Einladung ihrer Chefin übermittelt. Als Stegemann ein paar Tage später das Büro Nummer 1.735 im ersten Stock des Jakob-Kaiser-Hauses betritt, ist er überrascht: Sein Buch liegt auf dem Tisch, und Wagenknecht hat es ausgiebig studiert. Über zwei Stunden diskutieren beide, bis Stegemann es ist, der aus Termingründen gehen muss, was ihm peinlich ist. Wagenknecht, die eigentlich immer Termindruck hat, hätte sich noch mehr Zeit genommen.

Lafontaine sagt: Sollen wir denn einfach nichts tun?

Man muss die Arbeitsbeziehung zwischen Stegemann und Wagenknecht, die an diesem Tag entsteht, verstehen, um wiederum zu begreifen, wohin das Projekt linke Sammlungsbewegung steuert: Sie soll im Grunde keine Gegenbewegung gegen rechts sein, das ist sie automatisch, sondern eine Bewegung für eine erneuerte liberale Gesellschaft, die zur Dialektik, also zum Hinterfragen der eigenen Doppelmoral, wieder in der Lage ist. Ein paar Monate später diskutieren beide auf einer öffentlichen Veranstaltung im BE. Thema: Populismus.

Besucht man Sahra Wagenknecht in diesen Wochen in ihrem Büro, ist sie wie immer im Terminstress, aber gut gelaunt. Am liebsten hätte sie das Projekt vor der Sommerpause und vor dem Linken-Parteitag gestartet, aber als sie mit ihren Mitstreitern mal wieder zusammen sitzt, fällt auf, dass die Fußball-Weltmeisterschaft ansteht – gegen ein solches Ereignis will man mit einer profanen Revolution nicht anstinken. Wagenknecht gibt zu, dass es sie etwas geärgert habe, sie neigt zur Ungeduld, aber nun wird die Sache eben im September gestartet. Wagenknecht selbst ist mittlerweile eine gute Kennerin der neurechten Bewegung, sie hat sich eingelesen, hat sich erfolgreiche Bands angehört, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was deren Songs für Jugendliche attraktiv mache. Sie weiß, dass die Rechten vor allem im Netz erfolgreicher sind als alle anderen. Dort in den sozialen Medien, das ist ihre und Lafontaines Überzeugung, müsse die neue Plattform vor allem verankert sein.

Wagenknecht: Die Linke darf nicht belehren

Trotzdem wird es schwer, ausgerechnet dialektisch argumentieren zu wollen, wenn man doch breite Massen gewinnen will. Sie sagt: „Die Rechten sind keine Armutsbewegung, aber sie greifen Sehnsüchte auf, und diese Sehnsüchte haben etwas mit den sozialen Verwerfungen unserer Zeit zu tun. Es gibt den Wunsch, ein Leben in geordneten Bahnen zu führen. Dem nachzukommen, ist ein ur-linkes Anliegen.“ Wie Stegemann, versucht auch Wagenknecht die soziale Marktwirtschaft gegen globalisierten Turbo-Kapitalismus zu verteidigen. Die Bücher, die sie schreibt, wie „Freiheit statt Kapitalismus“ oder „Reichtum ohne Gier“, stellen die ordoliberalen Ideen eines Alexander Rüstows oder Walter Euckens, Vordenker der sozialen Marktwirtschaft, in den Mittelpunkt. Vieles, was Wagenknecht sagt, geht auf Rüstow zurück: Die Wirtschaft muss wieder eine dienende Rolle bekommen. Würde man die originären, liberalen Ideen zu Ende denken, sagt sie, landete man in einer Art „kreativen Sozialismus“, der kein Zentralismus sei, sondern „Leistung und Wettbewerb hochhält“.

Das Buch von Bernd Stegemann erschien im vergangenen Jahr und wurde in den Feuilletons breit besprochen.
Das Buch von Bernd Stegemann erschien im vergangenen Jahr und wurde in den Feuilletons breit besprochen.

© Tsp

Wagenknecht sagt, in der neuen Bewegung gehe es darum, „Menschen nicht belehren“ zu wollen. Ihre Partei, auch eine linke Sammlungsbewegung, „darf nicht so tun, als sei der globalisierte Kapitalismus eine Errungenschaft und die Vereinzelung in der Arbeitswelt ein Fortschritt“. Das sei eben auch ein Thema der Rechten, zumindest, ist sie sicher, könnte die neue Rechte hier leicht einhaken. Sie sagt: „Die Rechten instrumentalisieren ein Lebensgefühl. Sie holen die Menschen bei ihren berechtigten Sehnsüchten ab, die sie dann ins Völkische und Nationalistische wenden. Aber die Sehnsucht nach Sicherheit, nach Schutz durch den Staat ist nicht rechts. Es ist unser Versagen, diese Stimmungen der Rechten zu überlassen.“ Deshalb dürfe die Linke auf keinen Fall mehr wie bisher „arrogant und besserwisserisch“ daherkommen, sie isoliere sich sonst und „erreicht viele Menschen nicht mehr“.

Aber wie soll man die Menschen erreichen, wenn man von oben herab eine Bewegung initiieren will? Anruf im Saarland, haben Sie darauf eine Antwort, Herr Lafontaine?

Oskar Lafontaine sagt, er könne den Vorwurf verstehen. Selbstverständlich wäre es besser, wenn die Sammlungsbewegung sich aus der Gesellschaft heraus entwickeln würde. Dann fragt er zurück: „Aber sollen wir gar nichts tun und tatenlos zusehen, wie die Rechte immer stärker wird und die kulturelle Hegemonie übernimmt? Wenn wir so weitermachen, landen Linke, Grüne und SPD bei der nächsten Bundestagswahl bei 30 Prozent.“ Lafontaine würde sich wünschen, dass führende Politiker der SPD oder der Grünen diese Sammlungsbewegung unterstützen, „aber leider sind sie zu sehr auf ihre eigenen Parteien fixiert, das gilt auch für die Linke“. Sie würden zu wenig an das wichtigste Ziel denken, nämlich die Gesellschaft zu „befreien von der Diktatur eines außer Rand und Band geratenen Kapitalismus“. Lafontaine und Wagenknecht wissen, dass sie sich vor allem in der eigenen Partei angreifbar machen, Bernd Stegemann wiederum weiß, dass man auch ihn einfach ganz undialektisch in die rechte Ecke stellen könnte. Er sagt, er habe keine Angst mehr vor einer Diffamierung. Er finde, dass der rechte Populismus nur ein „Aufschrei in der Zersplitterungsdynamik“ globalisierter Gesellschaften darstelle.

Stegemanns Studenten an der Ernst-Busch-Hochschule wollten im letzten Dramaturgie-Seminar mit ihm vor allem eine Frage klären – sie lautete: „Warum sind die Linken nicht mehr links?“

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