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Schicksale: Sterbehilfe: Der letzte Wille

Ob sie Schmerzen haben, lässt sich manchmal nur erahnen. Was sie wünschen, ebenso. Lebensverlängernde Maßnahmen dürfen abgebrochen werden, das beschloss der BGH. Nun müssen oft Angehörige über das Schicksal Todkranker entscheiden. Drei Beispiele.

Ein Ritual hat Ines Brauer* auch beibehalten, als alles andere längst anders war. Jahrelang hat ihr Mann jeden Tag eine Rose für sie mitgebracht. Seit zwei Jahren, seit ihr Mann im Wachkoma liegt, bringt sie ihm eine Rose, jeden Tag.

Ines Brauer, 69, hat das Ritual ihrem Leben angepasst. Sie hat es verändert, umgedreht, weil es anders nicht mehr ging. Sie zitiert es aus ihrem alten Leben, um wenigstens etwas davon in ihr heutiges zu retten. Nur ihr Mann, der früher Teil des Rituals war, nimmt es heute nicht mehr wahr. Wahrscheinlich nicht.

Wachkoma, das bedeutet: Nichts ist sicher. Durch schwere Schädigungen des Gehirns scheinen Patienten zu schlafen und vorübergehend aufzuwachen. Wie viel ihnen bewusst wird, wie viel sie fühlen, ist unklar, die Einschätzung, ob sich der Zustand der Patienten jemals bessern wird, eine Gratwanderung.

Gerhard Brauer, 78, Chirurg im Ruhestand, war eines Morgens nicht mehr in der Lage, aufzustehen. Ihm war schwindlig, er hatte Kopfschmerzen und konnte kaum sprechen. Ines Brauer fuhr ihren Mann ins Krankenhaus. Ein Tumor hatte sich eingenistet in seinem Kopf. „Als ich die Diagnose erfahren habe“, sagt sie und lässt schon hier das „wir“ aus, „war ich tagelang handlungsunfähig.“

Wer Ines Brauer erzählen hört – bestimmt, gewählt – ahnt, was Handlungsunfähigkeit für sie bedeutet. Während ihr Mann Chefarzt einer großen Berliner Klinik war, arbeitete sie im Außenhandel, später im Vertragsmanagement der Treuhand. Ein aktives, selbstbestimmtes, sinnvolles Leben, wie sie sagt. In dem sie nach 49 Jahren Ehe, die von Gesprächen und Wertschätzung geprägt gewesen sei, in einigen Situationen auch gewusst hätten, was der andere denkt. Auf diese Ahnung von Wissen baut Ines Brauer heute ihre Entscheidungen.

Gerhard Brauer bekam Chemotherapie, monatelang. Irgendwann blieb sein Herz stehen. Er wurde reanimiert, hatte wegen Sauerstoffmangels jedoch schwere Hirnschäden.

Heute liegt er in einem ruhigen, hellen Einzelzimmer auf der Wachkoma-Station der Wilmersdorfer Fugger-Klinik. Die Beatmungsmaschine pfeift und schnauft, die Schläuche der Magensonde führen zu seinem Körper. Die Augen sind geschlossen, sein Mund ist eingefallen. Manchmal dreht er den Kopf oder kneift die Lippen zusammen. Seine Frau nimmt es als Kommunikation wahr. Alle vier Stunden wird er gewendet, er wird gewaschen, gecremt, rasiert.

Gerhard Brauer, der ja selbst Arzt war, hatte eine Patientenverfügung: Keine aktiv lebensverlängernden Maßnahmen, hieß es darin, nicht unter allen Umständen. Für den Fall, dass es keine Heilungschancen mehr gibt, sollten weder künstliche Ernährung noch Beatmung von außen eingesetzt werden. Ines Brauer jedoch sagt heute: Es komme für sie nicht infrage, die Maschinen abzuschalten. „Es wäre, als hätte ich sein Leben ausgelöscht.“

Ines Brauer, die ihr Leben immer im Griff hatte, versucht, die Dinge zu ordnen, auch wenn sie sich nicht mehr ordnen lassen. „Es ist die Endstation, darüber muss man sich klar sein“, sagt sie. „Keiner kann mit Sicherheit sagen, ob er nicht doch wieder wach wird“, sagt sie. „Ich glaube, wir wissen, dass er keine Schmerzen hat“, sagt sie. Und: „Es ist keine Pflicht, ihn zu pflegen. Es ist mir ein Bedürfnis.“

Jeden Tag kommt sie in die Klinik, seit mehr als 700 Tagen. Sie bleibt von 14.30 bis 19 Uhr, oft auch länger, sie liest vor und legt klassische Musik auf. „Mein eigenes Leben hat sich sehr reduziert“, sagt sie. Trotzdem sei sie froh, dass sie ihren Mann noch habe. Sie sagt, sie handle nicht gegen seinen Willen – sie sehe es als Fortschreibung: „Ich habe die Patientenverfügung unserer neuen Situation angepasst.“ Wie sie auch das Ritual mit der Rose angepasst hat.

Sie glaube manchmal, sagt Marie Heller heute, dass ihre Schwester Sarah nur deshalb so lebenslustig war, keine Grenzen kannte, so exzessiv Sport machte, weil sie tief im Inneren ahnte, dass sie nur 33 Jahre haben würde fürs Leben. Eine Woche hatte ihre Familie, um die Entscheidung über Leben und Tod von Tochter und Schwester zu treffen. Ohne sie.

Neben ihrem Mann, sagt die zwei Jahre jüngere Marie Heller, sei ihr niemand so nahe gewesen wie ihre Schwester. „Wir mussten sie interpretieren“, sagt sie, „nach allem, was wir von ihr wussten.“ Eine Patientenverfügung gab es nicht, niemand hatte damit gerechnet, dass es von heute auf morgen um Leben oder Tod gehen würde. Und bei aller Liebe, die größer nicht hätte sein können, sagt Marie Heller, „durfte es nicht darum gehen, was wir wollen. Sondern was sie will“.

Sarah Heller, 33, Augenärztin, frisch verliebt, fällt an einem Dienstagvormittag vom Fahrrad, weil sie einen elektrischen Schlag im Kopf gespürt hat. Im Virchow-Klinikum stellt sich heraus, dass es eine Hirnblutung war. Sie soll zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben, ihre Schwester unterbricht ihre Arbeit an der Universität und fährt zu ihr. Ein erstes mulmiges Gefühl legt sich bald, die beiden sind guter Dinge. „Wir haben gequatscht“, sagt Marie Heller, „Schokolade gegessen, gealbert.“ Ihre Mutter reist sofort aus Süddeutschland an. Marie holt sie vom Bahnhof ab, um am nächsten Morgen wieder in der Klinik zu sein.

Dort stehen morgens fünf Ärzte um Sarah versammelt. Es heißt, wegen des Risikos, dass es eine weitere Blutung geben könne, müsse der Schädel geöffnet und die Quelle verschlossen werden. Ohne Operation, sagen die Ärzte, würde Sarah künftig mit hohem Risiko leben. Vielleicht könne sie keinen Sport mehr machen, wie sie ihn als Fitnesstrainerin jahrelang fast täglich gemacht hat, vielleicht müsse sie mit Einschränkungen leben. Sarah entscheidet sich für die OP, ein letztes Mal wird ihr Wille deutlich. Tschüss Mariechen, bis gleich, sagt Sarah.

Marie und ihre Mutter gehen ins KaDeWe, sie kaufen einen Teddy für Sarah, sie bummeln durch die Stadt, um sich abzulenken vom Gedanken, dass Sarahs Kopf gerade aufgeschnitten wird. Als sie nach einigen Stunden wieder ins Krankenhaus kommen, werden sie am Eingang zur Seite genommen.

Der Chefarzt bittet sie in sein Zimmer, „die OP ist schiefgegangen“, sagt er. Als sein Kollege Sarahs Schädeldecke öffnete, sei ihm ein Schwall Blut entgegengekommen. Eine Ader, die anomal gelegen hatte, war porös geworden und geplatzt. Die linke Gehirnhälfte verblutete. „Sie hatte eine Zeitbombe im Kopf“, sagt der Arzt.

Marie Heller bekommt Atemnot, sie hyperventiliert. Sie und ihre Mutter werden zu Sarah gebracht, die inmitten von Schläuchen liegt. Sie wird künstlich ernährt und beamtet. Der Hirndruck, der immer stärker steigt, wird durch einen Abfluss und Medikamente kontrolliert. Ihr linkes Auge ist zugeschwollen. „Sonst war sie so schön wie immer“, sagt Marie.

Vater und Bruder reisen an, der Familie werden Aufnahmen von Sarahs Kopf gezeigt. Rechts sind Hirnstrukturen zu erkennen, links nur eine graue Masse. „Wahrscheinlich wird ihre Motorik nie wieder funktionieren“, sagen die Ärzte, „wahrscheinlich wird sie für immer bettlägerig sein. Wahrscheinlich ist ihr Sprachzentrum dauerhaft beschädigt. Wahrscheinlich wird sie nicht mehr zu Bewusstsein kommen.“

Marie Heller sagt heute, sie habe nie in ihrem Leben größere Schmerzen empfunden als damals. „Aber das waren meine Schmerzen“, sagt sie. Was Sarah betraf, stand die Frage im Raum, wie es weitergehen würde mit ihr. Sollte man sie am Leben erhalten, unter allen Umständen? Was für ein Leben wäre das? Und hätte sie es gewollt? „Wir müssen alles tun, was möglich ist, um uns später keine Vorwürfe zu machen“, sagte Sarahs Vater. Sie solle gepflegt werden, sie solle Therapie bekommen. „Sie wird nie wieder sein, wer sie war“, sagte Marie Heller. „Sie würde so nicht leben wollen. Wir wissen das.“

Wie viel Kraft kostet es, zu entscheiden und loszulassen? Alles brennt, sagt Marie Heller. Nach einer Woche, in der auch die rechte Hirnhälfte wegen des großen Drucks weiteren Schaden nimmt, beschließt die Familie in Absprache mit den Ärzten, die Medikamente abzusetzen, die den Hirndruck kontrollieren sollen. Zwei Tage später wird Sarah für tot erklärt.

Als Rolf Eckert an einem Morgen im Mai vom Brötchenholen zurückkommt, liegt seine Frau auf dem Wohnzimmerboden. Ihr Körper ist verrenkt, ihre Augen sind verdreht. Der Notarzt bringt sie in die Klinik. Noch am Vormittag wird sie wegen eines Aneurysmas operiert. Große Teile des Gehirns werden dabei beschädigt, Martina Eckert wird ins künstliche Koma versetzt. „Ich stand tagelang vor Frau Eckerts Bett und habe darauf gewartet, dass sie die Augen aufmacht“, sagt Rolf Eckert.

Er nennt seine Frau, mit der er nun seit 37 Jahren verheiratet ist, gerne Frau Eckert. Es hat etwas Liebevolles, Saloppes, „es passt zu uns“, sagt er. Als sie noch sprechen konnte, vor der Operation, hat Martina Eckert auch ihn Herr Eckert genannt.

Vor der Operation, in ihrem Leben in Halle, dann in Berlin, hat Martina Eckert, die heute 57 Jahre alt ist, als technische Zeichnerin gearbeitet. Sie las gern, „die Bestsellerlisten rauf und runter“, sagt Rolf Eckert. Sie mochte Musik, genau wie ihr Mann: Rock ’n’ Roll, Country, Johnny Cash zum Beispiel. „Wichtig war, dass man dazu tanzen konnte“, sagt er und lächelt. „Wir haben auch mal zu Hause getanzt, wenn uns danach war.“ Vor der Operation.

Nach der Operation konnte sich Martina Eckert nicht mehr bewegen. Sie konnte nicht mehr sprechen, sie reagierte nicht auf Reize, sie wurde über eine Magensonde ernährt. Hin und wieder öffnete sie die Augen. Nach Intensivstation und dreimonatiger Reha hieß es: Wachkoma, austherapiert. Niemand legte sich fest, ob noch mehr möglich sein würde.

In diesem Zustand wurde Martina Eckert vor zwei Jahren ins Pflegeheim Doktor Arno Philippstal nach Marzahn verlegt. Seitdem hat sie Fortschritte gemacht: Sie kann den Kopf heben und Menschen ansehen. Sie kaut und schluckt selbstständig. Sie lacht und weint. Sie gilt nun nicht mehr als Wachkoma-Patientin, sondern als spastisch gelähmt und schwerstmehrfachbehindert. Für Außenstehende seien das kaum merkliche Unterschiede, sagt Rolf Eckert. „Für uns bedeutet das sehr viel: Frau Eckert ist noch da.“

Rolf Eckert, 60, der kurz vor der Operation von seinem Beruf in der chemischen Industrie in den Ruhestand gegangen war, ist fast täglich bei seiner Frau. „Ich lebe mit ihr“, sagt er und streicht ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Er erkenne sie wieder: Sie lacht, wenn er einen seiner Scherze macht, sie seufzt, wenn sie etwas anstrengend findet. Und als ein Kollege zu Besuch kam, den sie früher schon nicht leiden konnte, habe sie den keines Blickes gewürdigt, sagt ihr Mann.

Rolf Eckert versucht, ihr Leben einzurichten in der Situation: „Es wird davon bestimmt“, sagt er. Er hat das Auto umbauen lassen, damit er seine Frau mitnehmen kann zum Geburtstag der Söhne oder ins Grüne. Er übt mit den Pflegekräften des Heims, wie er seine Frau anfassen muss, wenn er sie wäscht, ihre Windeln wechselt, sie umlagert oder in den Rollstuhl hebt. Und er lässt ihre Wohnung behindertengerecht umbauen: Er will seine Frau wieder nach Hause holen. „Ich möchte auch unter diesen Umständen privat mit ihr leben“, sagt er. „Als Ehemann, nicht als Besucher.“

Rolf Eckert weiß, dass seine Frau nie mehr dieselbe sein wird wie früher. „Man darf nicht zu viel wünschen und interpretieren“, sagt er. Trotz der Therapien werden sie sich nicht mehr unterhalten, sie werden nicht mehr tanzen. Martina Eckert wird nicht mehr auf ihn reagieren, wie es gesunde Menschen tun. Einige Träume und Wünsche, gemeinsame Reisen zum Beispiel, werden nicht mehr zu erfüllen sein. „Aber sie ist noch meine Frau“, sagt er.

Er sagt auch, dass sie beide nicht gewollt hätten, dass ihr Leben nur noch durch medizinische Technik bestimmt würde. „Aber so habe ich es nie empfunden.“ In einer Ehe, sagt Rolf Eckert noch, sei wichtig, dass man sich miteinander entwickelt. „Einer hat mal einen Vorsprung, einer zieht nach.“ Martina Eckert holt auf.

* alle Namen geändert

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