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Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU)

© Imago/Political-Moments

Update

„Schnellstmöglich Kräfte in Marsch setzen“: Bundeswehr bereitet Evakuierungseinsatz in Afghanistan vor

Die Bundeswehr soll Deutsche und Ortskräfte aus dem Land holen. Es mehren sich auch Forderungen, den Flüchtlingen in Afghanistan schnell zu helfen.

Die Bundesregierung bereitet angesichts des schnellen Vorrückens der militant-islamistischen Taliban in Afghanistan unter Hochdruck eine militärisch abgesicherte Evakuierungsaktion vor. Deutsche Staatsbürger und afghanische Ortskräfte sollen so schnell wie möglich außer Landes gebracht werden. „Wir halten hierfür einsatzbereite Kräfte bereit und werden schnellstmöglich erste Kräfte in Marsch setzen“, kündigte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) am Samstag in Berlin an. „Es hat jetzt absolute Priorität, dass wir die zu Schützenden sicher nach Deutschland bringen.“

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) beriet am Samstag angesichts der sich zuspitzenden Lage in einer Krisensitzung mit Teilen ihres Kabinetts über das weitere Vorgehen. Es sei darum gegangen, „wie mit Hilfe der Bundeswehr die schnellstmögliche Rückholung von Mitarbeitern der deutschen Botschaft und in Afghanistan tätiger deutscher Organisationen sowie von afghanischen Ortskräften gewährleistet werden kann“, teilte ein Regierungssprecher später mit. „Eine Beteiligung des Deutschen Bundestags an einer solchen Entscheidung wird erfolgen“, versichert er.

Neben der Kanzlerin nahmen an der Telefonkonferenz den Angaben zufolge Vizekanzler Olaf Scholz und Außenminister Heiko Maas (beide SPD) sowie Kramp-Karrenbauer, Innenminister Horst Seehofer (CSU), Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) und ein Vertreter des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit teil.

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Auch die wachsende Zahl der Flüchtlinge in und aus dem Land am Hindukusch erhöhen den Druck auf die EU und Deutschland immer mehr. „Die Zahl der Geflüchteten hat bereits dramatisch zugenommen“, sagte der Staatsminister im Auswärtigen Amt (AA), Michael Roth (SPD), der „Rheinischen Post“.

Roth führte aus, derzeit gebe es am Hindukusch 3,5 Millionen Binnenflüchtlinge, 400.000 allein in diesem Jahr. Der Druck werde nicht nur weiter „massiv“ auf die Türkei, Iran und Pakistan wachsen. „Ich bin mir sicher, dass der Migrationsdruck auf die EU und Deutschland aber auch zunehmen wird“, sagte der Staatsminister. Umso wichtiger sei es, dass das EU-Abkommen mit der Türkei zur Unterstützung der Flüchtlinge vor Ort schnell umgesetzt werde. So habe es bereits im Juni eine Überarbeitung des Abkommens gegeben.

Seit Beginn des vollständigen Abzugs der Nato-Truppen aus Afghanistan haben die Taliban weite Teile des Landes unter ihre Kontrolle gebracht. In den vergangenen Tagen nahmen die Islamisten rund die Hälfte der 34 afghanischen Provinzhauptstädte ein, darunter zuletzt auch die zweitgrößte Stadt Kandahar. Am Freitag standen sie nach Eroberung der Provinzhauptstadt Pul-i-Alam nur noch 50 Kilometer vor Kabul.

Staatsminister im Auswärtigen Amt: Michael Roth (SPD).
Staatsminister im Auswärtigen Amt: Michael Roth (SPD).

© Soeren Stache/dpa

UN-Generalsekretär António Guterres sagte, die Taliban begingen in den von ihnen kontrollierten Regionen nach Informationen der Vereinten Nationen schwere Menschenrechtsverletzungen. Betroffen seien „ersten Anhaltspunkten zufolge“ vor allem Frauen und Journalisten.

„Besonders entsetzlich und herzzerreißend“ sei es, „Berichte zu sehen, wonach den afghanischen Mädchen und Frauen ihre hart erkämpften Rechte entrissen werden“, sagte Guterres. „Angriffe auf Zivilisten sind eine schwere Verletzung des humanitären Völkerrechts und sind gleichbedeutend mit Kriegsverbrechen“, betonte er.

Baerbock: Fehler des Syrien-Kriegs nicht wiederholen

Die Taliban hatten während ihrer Herrschaft von 1996 bis 2001 eine strenge Auslegung des islamischen Rechts in Afghanistan eingeführt. Mädchen waren von Bildung, Frauen vom Arbeitsleben ausgeschlossen. Straftaten wurden mit öffentlichen Auspeitschungen oder Hinrichtungen geahndet.

Kanzlerkandidatin der Grünen: Annalena Baerbock.
Kanzlerkandidatin der Grünen: Annalena Baerbock.

© Christoph Soeder/dpa

Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock warnte den Westen davor, Versäumnisse wie im syrischen Bürgerkrieg zu wiederholen. Die europäischen Länder seien damals auf fatale Weise unvorbereitet gewesen, dass Menschen in so einer dramatischen Situation ihr Land verlassen müssten, sagte Baerbock in einem Interview des Deutschlandfunks. Man dürfe diesen katastrophalen Fehler nicht wiederholen und warten, bis alle 27 EU-Länder zur Aufnahme von Flüchtlingen bereit seien.

Vielmehr müsse man sich mit den europäischen Ländern zusammenschließen, die dazu bereit seien. Auch mit den USA und Kanada müsse man sich abstimmen. Gemeinsam müssten klare Kontingentregeln vereinbart werden, sagte die Co-Chefin der Grünen.

Wird Afghanistan wieder Hort für Terroristen?

Der Außenexperte der Partei, Omid Nouripour, warnte davor, dass Afghanistan unter den Taliban wieder zu einem Rückzugsraum für Terroristen wird. „Die einzige Bedingung, die die USA an ihren Abzug gestellt haben, war, dass die Taliban ihre Verbindungen mit dem Terror-Netzwerk Al Qaida abbrechen“, sagte Nouripour der „Passauer Neuen Presse“. „Das ist aber nicht passiert.“

Afghanische Flüchtlinge an der Grenze zu Pakistan
Afghanische Flüchtlinge an der Grenze zu Pakistan

© Jafar Khan/AP/dpa

Sollten die Taliban die Macht in Afghanistan übernehmen, stehe ihnen erst einmal ein Krieg mit dem „Islamischen Staat“ (IS) bevor, ist der außenpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion überzeugt. „Beide Gruppen haben sich bislang heftig bekämpft. Das Land wird jedenfalls nicht zur Ruhe kommen.“ Nouripour warnte, nach einer Machtübernahme der Taliban in Afghanistan bekomme auch Al Qaida „wieder Oberwasser“. Dies hätte „Folgen für unsere Sicherheitslage“.

Röttgen: Taliban jetzt etwas entgegensetzen

CDU-Außenexperte Röttgen sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND): „Man darf nicht dabei zuschauen, wie Menschen, die uns lange verbunden waren, von den Taliban abgeschlachtet werden, wie Mädchen und Frauen alle hart erkämpften Rechte wieder verlieren.“

Tatenlosigkeit angesichts des Taliban-Vormarschs „wäre eine massive Selbstbeschädigung unserer Glaubwürdigkeit“, warnte Röttgen. „Nach 20 Jahren Einsatz zu sagen, das sei eine afghanische Angelegenheit, ist wirklich absurd und beschämend“, fügte er hinzu. Es gehe nicht darum, aus Afghanistan eine moderne Demokratie zu machen.

Röttgen betonte, dass er nicht dafür sei, den Truppenabzug aus Afghanistan rückgängig zu machen. „Trotzdem muss man der Offensive der Taliban jetzt etwas entgegensetzen, aus der Verantwortung nach 20 Jahren Einsatz heraus und aufgrund unserer eigenen Sicherheitsinteressen“, sagte er dem RND. „Es reicht nicht, dass wir immer nur amerikanische Entscheidungen abnicken.“

Röttgen sagte weiter: „Der einseitige und übereilte Abzug aus Afghanistan war ein Fehler.“ Deutschland müsse dies „offen gegenüber den USA kommunizieren und darauf drängen, dass sie ihre bereits stattfindende Luftunterstützung der afghanischen Streitkräfte intensivieren“. Der Außenpolitiker mahnte: „Das können wir aber nur dann fordern, wenn wir auch selbst bereit sind, etwas zu leisten.“

Der frühere Bundeswehr-General Hans-Lothar Domröse hält den Afghanistaneinsatz der Nato für gescheitert. Das Konzept „train, assist, advise (trainieren, unterstützen, beraten)“ sei nicht aufgegangen, sagte er am Samstag auf NDR Info. Obwohl die afghanische Armee gut ausgebildet und ausgestattet sei, setze sie ihre Mittel nicht ein.

Die Soldaten wüssten offenbar nicht, wofür sie kämpfen, sagte Domröse. Es stelle sich die Frage, ob überhaupt ein afghanischer Staat existiere oder nicht einzelne Stammesfürsten das Land beherrschten. Domröse war 2008 Chef des Stabes der Sicherheits- und Wiederaufbaumission Isaf in Afghanistan unter dem Kommando des US-Generals David D. McKiernan.

Laschet sieht „moralische Verpflichtung“

CDU-Chef und Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet (CDU) sprach sich am Samstag dafür aus, dass die Bundeswehr afghanische Ortskräfte schnell evakuiert. „Diesen Leuten muss geholfen werden, sie müssen jetzt rausgeholt werden“, sagte Laschet der Agentur AFP zufolge beim Landestag der Jungen Union Hessen in Gießen. „Das ist unsere moralische Verpflichtung.“

[Mehr zum Thema: Bundeswehr-Abzug aus Afghanistan: Mahmoud half den Deutschen, die Taliban wollen ihn ermorden (T+)]

Laschet weiter: „Wir können nicht länger zusehen, dass sie bedroht werden von den Taliban und den Fundamentalisten." Die Taliban seien nicht mehr weit von der Hauptstadt Kabul entfernt. Die Bundeswehr werde „noch einmal tätig werden müssen“. Notwendig sei ein neues Mandat des Bundestages.

Der CDU-Parteichef kritisierte das SPD-geführte Auswärtige Amt: Es prüfe seit Monaten, „wie man die Ortskräfte da herausholen könnte, mit Tausenden Bedenken“. Das helfe jetzt nicht mehr.

Habeck fordert sofortige Hilfe für Ortskräfte

Auch Grünen-Co-Chef Robert Habeck forderte mehr Einsatz der Bundesregierung für Menschen, die als Ortskräfte die Bundeswehr oder deutsche Ministerien in Afghanistan unterstützt haben. „Es braucht jetzt eine Luftbrücke, um diese Menschen aus Lebensgefahr zu bringen“, sagte Habeck der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ). „Es ist unsere Pflicht, die Menschen vor den Taliban zu retten, die ihr Leben riskiert haben, um unseren Soldatinnen und Soldaten zu helfen“, sagte der Grünen-Co-Chef. „Das ist eine Frage von Treue. Wir dürfen sie nicht im Stich lassen, die Zeit läuft.“

Taliban fahren mit einem erbeuteten Armeefahrzeug durch Kandahar.
Taliban fahren mit einem erbeuteten Armeefahrzeug durch Kandahar.

© by-/AFP

Habeck verlangte, bei den Ortskräften auch solche Menschen mit einzubeziehen, die über Firmen, also nicht direkt für die Bundeswehr oder andere deutsche Institutionen gearbeitet haben. Schließlich interessierten sich die radikalislamischen Taliban für solche Vertragsverhältnisse „herzlich wenig“. Die Visa sollten Habecks Meinung nach bei der Ankunft erteilt und die Verfahren vereinfacht werden.

AA-Staatsminister Roth sagte im Gespräch mit der RP den Schutz deutscher Staatsbürger in Afghanistan zu. „Wir werden bis zum Ende des Monats ein bis zwei Charterflüge organisieren, um noch einmal eine größere Anzahl an Menschen nach Deutschland zu bringen.“ Außenminister Heiko Maas (SPD) hatte erklärt, die deutsche Botschaft solle „arbeitsfähig“ bleiben, das Personal werde aber „auf das operativ notwendige absolute Minimum“ reduziert.

Bundeswehrsoldaten mit einem Dolmetscher bei Kundus im Jahr 2011.
Bundeswehrsoldaten mit einem Dolmetscher bei Kundus im Jahr 2011.

© dpa

„Initiative zum Schutz afghanischer Ortskräfte“ appelliert

In Afghanistan sind derzeit noch deutlich mehr als 100 Deutsche, darunter auch die Diplomaten und Mitarbeiter der Botschaft in Kabul sowie Experten anderer Ministerien und Organisationen. Auch Ortskräfte sollen ausgeflogen werden. Deren genaue Zahl ist aber noch unklar. So haben allein Organisationen aus dem Geschäftsbereich des Bundesentwicklungsministeriums derzeit noch mehr als 1000 einheimische Mitarbeiter in Afghanistan.

In einem offenen Brief wandte sich die „Initiative zum Schutz afghanischer Ortskräfte“ (Isao 2021) am Samstag an die Bundesregierung. Prominente Erstunterzeichner wie unter anderem die Politologin und frühere Kandidatin für das Bundespräsidentenamt, Gesine Schwan, der Schriftsteller Günter Wallraff und der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig fordern darin Deutschland zu schnellem Handeln auf. „Wir begrüßen es, dass bereits 1.500 Ortskräfte der Bundeswehr ausgeflogen und 2.500 Visa erteilt wurden“, heißt es darin. Doch dies reiche keineswegs aus. Die Rettung der Betroffenen und ihrer direkten Familienangehörigen sei ein Wettrennen gegen die Zeit und bedeute eine gewaltige logistische Herausforderung. Aber: „Mindestens 1.500 weitere Personen sind enorm gefährdet. Ihnen steht unser Schutz zu. Wir stehen bei ihnen im Wort.“

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