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Politik: Schockgefroren

Merkel hatte eine Verschärfung des Türkeikurses ins Spiel gebracht – und Ankara auf den Plan gerufen

„Historischer Fehler“, „Erpressung“, „Vorwand“ – wenn türkische Regierungspolitiker in diesen Tagen das Verhalten der EU beschreiben, fallen keine sehr freundlichen Worte. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan warnte die EU- Staaten öffentlich davor, die türkischen Beitrittsverhandlungen für anderthalb Jahre auf Eis zu legen, wie das Bundeskanzlerin Angela Merkel gefordert hatte: Die EU selbst, nicht die Türkei, werde am Ende der Verlierer sein, sagte Erdogan.

Dass Merkel, die Erdogan erst bei ihrem Türkeibesuch vor zwei Monaten versprochen hatte, die Beitrittsverhandlungen nicht zu stören, jetzt eine Verhandlungspause fordert, hat die Türken geschockt. Noch bevor Merkel am Dienstag mit Frankreichs Staatschef Jacques Chirac und dessen polnischen Kollegen Lech Kaczynski zu einem Gespräch über eine härtere Linie gegenüber der Türkei zusammentraf, rief Erdogan die Kanzlerin an, um sie von ihrem Plan abzubringen. Türkische Beobachter reagierten deshalb am Dienstagnachmittag mit Erleichterung, als Merkel ihren Vorschlag einer Verhandlungspause nach ihrem Treffen mit Chirac nicht wiederholte. „Merkel verzichtet“, kommentierte der Fernsehsender CNN-Türk. Türkische Regierungsvertreter wollten sich zunächst nicht öffentlich äußern. Da die Kanzlerin zuerst eine Verhandlungspause gefordert hatte, nun aber lediglich von einem Bericht der EU-Kommission sprach, sei nicht ganz klar, worauf Merkel denn nun eigentlich hinauswolle, hieß es in Ankara.

Die EU-Kommission hatte vergangene Woche vorgeschlagen, acht Kapitel der türkischen Beitrittsverhandlungen einzufrieren, weil die Türkei ihre Häfen nicht für zyprische Schiffe öffnen will. Während Erdogan von der EU verlangt, die Strafe abzumildern, ging Merkels ursprünglicher Vorschlag einer 18-monatigen Verhandlungspause weit über den Kommissionsvorschlag hinaus. Die ebenfalls als Türkeigegnerin geltende Regierung Frankreichs hatte Unterstützung für diesen Vorstoß signalisiert. Berlin und Paris seien dabei, eine neue Mauer gegen die Türkei zu errichten, hieß es am Dienstag in den türkischen Zeitungen.

Der türkische Verhandlungsführer bei den Beitrittsgesprächen, Ali Babacan, warf den Europäern vor, das Thema Zypern lediglich als „Vorwand“ zu benutzen, um der türkischen Bewerbung neue Steine in den Weg zu legen. Der türkische Ministerpräsident Erdogan, der bei ähnlichen Krisen mit der EU in den vergangenen Jahren häufig sehr gereizt auftrat, gab sich diesmal aber betont ruhig und selbstsicher. „Die EU braucht die Türkei genauso, wie die Türkei die EU braucht“, sagte Erdogan, der auf die geostrategische Bedeutung seines Landes verwies.

Ein Grund für Erdogans Gelassenheit ist die Tatsache, dass Merkels Vorstoß in der EU sehr umstritten ist und unter anderem auch von der EU-Kommission in Brüssel abgelehnt wird. Er erwarte keine Krise im Beitrittsprozess, sagte Außenminister Abdullah Gül deshalb. Regierungsvertreter in Ankara dementierten am Dienstag einen türkischen Zeitungsbericht, nach dem im Falle einer EU-internen Einigung auf Merkels Vorschlag zwischen Ankara und Brüssel „die Seile reißen“ würden. „So leicht werden uns die Europäer nicht los“, schrieb der Kolumnist Mehmet Ali Birand. Um das Thema Zypern von der europäischen Tagesordnung zu bekommen, will sich die Türkei in den kommenden Wochen und Monaten mehr denn je darum bemühen, die UN als Plattform für eine Lösung des Zypernkonflikts wieder stärker ins Spiel zu bringen.

Türkische Oppositionsparteien forderten unterdessen wegen der EU-Krise, die Neuwahlen im kommendne Jahr vom November in den April vorzuziehen.

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