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Schockierende Bilder: Wie die Medien mit der Katastrophe in Haiti umgehen

Nachdem über das Ausmaß der Katastrophe in Haiti zunächstwenig bekannt wurde, erreichen inzwischen immer mehr und immer schockierendere Bilder das Ausland. Wie gehen die Medien damit um?

Der „Tagesspiegel am Sonntag“, die „Welt am Sonntag“ oder die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ zeigen Bilderstrecken von der Situation in Haiti nach dem verheerenden Erdbeben. Die Auswahl in den drei Blättern ist alles andere als identisch, und doch folgt sie einer Richtschnur: Die Fotos zeigen gerettete Menschen, zutiefst verzweifelte Überlebende, verwüstete Straßenzüge, Helfer, die erschöpft und überglücklich sind, weil ein Menschenleben gerettet werden konnte. Es ist, als hätte der Pressekodex des Deutschen Presserates das Sortiment der ausgewählten Motive bestimmt: „Die Wahrung der Menschenwürde“ steht im Zentrum der täglichen journalistischen Arbeit.

Solche Bilder reichen dem Fernsehen nicht. Wieder und wieder will die Kamera der Katastrophe unmittelbar ins Auge schauen. Leichenberge sind da ein wiederholt genommenes Motiv, abgerissene Gliedmaßen ebenso, und wenn der Mob in Port-au-Prince einen unbekleideten Mann – er soll ein Plünderer sein – durch die Straßen schleift und mit Macheten traktiert, geht auch das über den Schirm der Nachrichtensender. Das US-Network CNN lässt vor dem Hintergrund solcher Bilder einen Haitianer zu Wort kommen, der sagt, der Sender solle all die Leichen zeigen, wie sonst werde die Welt begreifen, wie sehr die Würde (dignity) der Menschen hier sich in Unwürde (indignity) verwandelt habe?

Bilder brauchen alle, die Print- und die elektronischen Medien. Und der Ehrgeiz aller läuft in der Bahn, die „ARD-aktuell“- Chefredakteur Kai Gniffke im „blog.tagesschau.de“ beschreibt: „Auch wenn ich es nach außen nicht gerne zugebe, offen gesagt habe ich gehofft, dass die eigenen Leute möglichst die Ersten sein werden, die aus Haiti berichten. Als wäre das so eine Art Wettbewerb. Ich kann es gleich sagen: Wir waren es nicht.“

Zuerst denkt Gniffke (und das muss er auch) an die eigenen, konkurrenzfähigen Bilder, die Korrespondent Stefan Schaaf und seine Mitarbeiter aus dem Unglücksland für „Tagesschau“ und „Tagesthemen“ anliefern. Und er hat ein Motiv über die Berichterstattung hinaus: „Wir müssen Öffentlichkeit schaffen, um in der Bevölkerung und in der Politik Sensibilität für die Katastrophe in Haiti zu schaffen.“ Das sei kein Voyeurismus, sondern liefere die Basis, „damit sich die Leute hier ein Bild von der Lage vor Ort machen können“, schreibt Gniffke. „Und es ist die Basis für Empathie, die uns nicht abhanden gehen sollte.“

„Empathie“, das ist das Stichwort, das Zauberwort, der Zielbegriff. Beteiligung, Anteilnahme, Mitgefühl – wie viele und welche Bilder braucht es, dass der Rest der Welt die Katastrophe wahrnimmt und den Haitianern zu Hilfe eilt? Gibt es eine Demarkationslinie, die das Fernsehen hin zum Voyeurismus überschreitet, während Print durch eine defensive Bildauswahl auf die Vorstellungskraft, die Imagination seines Publikums setzt?

Das fließende Fernsehbild setzt auf visuelle Eindrücklichkeit, auf Überwältigung, es geht sozusagen direkt unter die Netzhaut. Die Botschaft des Fernsehens ist eine kontinuierliche Botschaft. Nun ist der Fernsehzuschauer härter, vielleicht gar abgehärteter, wenn es um Katastrophenbilder geht. Er ist von dem Medium gewohnt, dass dieses Moment des Mittendrin auch mittels dramatischer, brutaler (Nah-)Aufnahmen erzeugt wird. Auf tausende Bilder folgen zehntausende von Bildern, und in dieser Leistung muss eine Steigerung zum Ausdruck kommen, von der Leiche zum Leichenberg. Das Fernsehbild ist der Superlativ, dem stillstehenden Pressebild ist Distanz eingeschrieben. Es ist herausgehoben aus dem Zeitfluss, es ist ein Dokument zur Zeit. Nach dieser Bilder- und Medienlogik können Zeitungen auf den konzentrierten Leser mit fokussierter Vorstellungskraft setzen. Mehr und drastischere Bilder wäre unnötige Bilderstürmerei.

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