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Ganz bei sich. Thomas Biller gab sein Leben als Fernsehproduzent auf, wollte Koch werden und gründete dann die Berliner „School of Life“.

© Thilo Rückeis

"School of Life" in Prenzlauer Berg: Kunst des Alltags

Das Leben ist voller Mängel. Wie also perfektioniert man die Gabe, nicht perfekt zu sein? Nach ihrem Erfolg in Großbritannien will die „School of Life“ auch in Berlin das Glücklichsein lehren.

Er warf alles hin, von heute auf morgen. Das war 2011. Er hatte es zuvor kaum sich selbst mitgeteilt. „Warum sagt mir keiner was?“, fragte Thomas Billers Erst-Ich, die Stimme der Vernunft, sein neues, bedenklich zur Spontaneität neigendes Zweit-Ich. Wir fangen jetzt ein neues Leben an und basta, hatte dieses soeben entschieden: Wir verkaufen alles und machen eine Koch-Lehre!

Unvernünftig ist es, eine gesicherte Existenz als Fernsehproduzent aufzugeben, um sich mit über 40 Jahren selbst zum Küchenjungen zu degradieren, ein Anfänger unter vielen. Doch da war nichts mehr zu machen. „Die beste Schule ist uns gerade gut genug!“, erklärte Billers Zweit-Ich, das jetzt sein Erst-Ich geworden war. Also die Le Cordon Bleu in Paris, gegründet 1895. Doch da es der Beginner eines ganz neuen Lebens versäumt hatte, rechtzeitig Französisch zu lernen, blieb nur die Londoner Zweigstelle. Und die ist in Bloomsbury, gewissermaßen am Hinterausgang des British Museum.

"Jeder Idiot kann eine Krise meistern"

Jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit kam der leicht überalterte Eleve des Kochlöffels an einem seltsamen kleinen Laden vorbei, in dessen Schaufenster vier Birkenstämme zu sehen waren. Daneben stand in gelben Blockbuchstaben „School of Life“. Was war denn das? Eine Aufforderung, zu werden wie die Bäume, fest in der Erde wurzelnd, aber mit dem Kopf fast den Himmel berührend, jedem Sturm trotzend? Oder ein Kant-Kommentar? Schließlich meinte der Großaufklärer, der Mensch sei aus zu krummem Holz geschnitzt, als dass etwas Gerades aus ihm werden könnte. Oder waren die vier Birkenstämme eine Anspielung auf den Wald, den man vor lauter Bäumen nicht mehr sieht? Wahrscheinlich alles auf einmal. „Jeder Idiot kann eine Krise meistern, es ist der Alltag, der uns fertigmacht“, hat der russische Schriftsteller Anton Tschechow einmal gesagt.

Sechs Jahre später. Seit April gibt es auch in Prenzlauer Berg in Berlin so einen kleinen Laden, an dem mit den gleichen Buchstaben derselbe Name steht. Nur die Birken fehlen. Thomas Biller tritt aus der Mitte des Raumes in der unverkennbaren Geste des Gastgebers. Thomas Biller, der Berliner Mitgründer der „School of Life“. Als Baum wäre er gewiss keine Birke, aber auch keine Eiche, eher eine Buche.

Oder auch: Wie verbringe ich eine gute Zeit – mit mir?

Er ist nicht Spitzenkoch geworden. Und doch macht er den Eindruck eines Menschen, der ganz eins ist mit sich. Woher weiß man eigentlich, wenn man dort angekommen ist, wo alle hinwollen: bei sich? Eben das, verspricht die „School of Life“, könne man hier lernen: Wie bleibe ich inmitten des Alltags ein ganz und gar nicht alltäglicher Mensch? Wie führe ich bessere Gespräche? Wie perfektioniere ich die Kunst, nicht perfekt zu sein? Und nicht zuletzt: Wie finde ich den Job, der zu mir passt? Oder auch: Wie verbringe ich eine gute Zeit – mit mir? Was für ein Thema, zumal wir es mit uns selbst täglich 24 Stunden aushalten müssen. Aber sind Menschen, die meinen, eine Antwort auf diese Art Fragen zu haben, nicht Scharlatane?

Wie ein Scharlatan sieht Biller eigentlich nicht aus. Und die junge dunkelhaarige Frau mit dem offenen Blick, die er jetzt begrüßt, auch nicht. Es ist Michele Gauler, die in zwei Stunden einen Kurs leiten wird, der sich mit der Frage beschäftigt: „Wie verwirkliche ich mein Potenzial?“ Es kann nicht falsch sein, das zu wissen. Drei Stunden für 39,50 Euro, ergebnisorientiert und ergebnisoffen zugleich. Am Abend zuvor sollte die „Romantherapie“ beginnen, aber es gab nicht genug Interessenten. Dabei bildet die Romantherapie gewissermaßen die geheime Mitte der „School of Life“. Denn was sind Schriftsteller, zuerst und zuletzt? Mitwisser des Menschen.

Nun entwickle mal dein Potenzial!

1997 registrierte der Buchmarkt einen Überraschungserfolg – der Titel: „Wie Proust Ihr Leben ändern kann“. Sein Autor hieß Alain de Botton. Ohne Alain de Botton keine „School of Life“ – er gründete sie 2008. Und ohne „Wie Proust Ihr Leben ändern kann“ kein Alain de Botton. Der jüdische Schweizer Bankierssohn Alain de Botton, 46 Jahre alt, ist der Peter Sloterdijk Großbritanniens und das erklärte Feindbild der Philosophieprofessoren.

Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ gehört zu den Büchern, über die alle reden und die kaum einer gelesen hat, zumindest nicht ganz. Umfang: an die 5000 Seiten. Schon Prousts Bruder kommentierte diese Verlegenheit so: „Das Dumme ist, daß man entweder todkrank sein oder sich ein Bein gebrochen haben muß, um Zeit für die Lektüre der Recherche zu finden.“

Proust als Lebenshilfe? Der Beginn der Romantherapie

Hinzu kommt der mittlere Abstand vom Beginn eines Proust-Satzes bis zum Ende eines Proust-Satzes. Alain de Botton hat herausgefunden, dass der längste knapp vier Meter lang ist und sich 17 Mal um den Bauch einer Weinflasche wickeln ließe. Vielleicht sind es Angaben wie diese, die das Vertrauen seiner Leser weckten. Der Mann liest zwar merkwürdige Bücher, verfügt aber noch über natürliche Wahrnehmungen. Und der Interpret verschwieg auch nicht, was all die Verleger sagten, die Prousts Roman ablehnten: So viele Seiten, und sie wüssten immer noch nicht, worum es geht. Und die ersten 30 handeln von einem Mann, der gerade nicht einschlafen kann. Muss das sein?

Doch Alain de Botton besaß die souveräne Frechheit, ausgerechnet über diesen Unendlichkeitsroman eines Schlaflosen ein denkbar kurzes Buch zu schreiben und zudem: einen Ratgeber. Proust als Lebenshilfe! Die Romantherapie war geboren. Die Proust-Spezialisten und die Literaturwissenschaftler hassten ihn dafür.

Gemeinschaft beginnt mit gemeinsamen Essen

Den Zorn des Londoner Kochlehrlings Thomas Biller zog sich Alain de Botton jedoch wegen eines Interviews mit dem „Guardian“ zu, in dem er erklärte, dass das Wichtige an einem Essen nicht das Essen selbst sei, sondern es seien die Gespräche, die man dabei führe. Das machte Biller schon sehr böse, weshalb er beschloss, sich den Laden und den Feind der Gourmetküche etwas genauer anzusehen. Und nun ist er hier, eingemeindet in das de-Botton-Reich, und passt auf, wie kalte Platten und Getränke auf dem großen Tisch in der Mitte des Empfangsraums arrangiert werden. Gemeinsam mit der Kulturpädagogin Dörte Ilsabe Dennemann hat er die Berliner „School of Life“ gegründet. Noch zehn Minuten bis Kursbeginn.

Der Ankömmling wird, wie im Londoner Stammhaus, mit Brot und Wein begrüßt. Und das hat Gründe. De Botton, das kreuzatheistische Kind kreuzatheistischer Eltern, ist anders als diese sehr dafür, von den Religionen zu lernen. Und was war der christliche Gottesdienst ursprünglich? Ein Gastmahl, genau. Das Menü: das Blut und der Leib Christi. Mag sein, unser Geschmack hat sich gewandelt, doch noch immer beginnt alle Gemeinschaft mit gemeinsamem Essen.

Die Kursleiterin zeichnet gerne Meteoriten

Wie vermutet sind die meisten Teilnehmer Frauen, von Anfang 30 bis Mitte 50, aber es sind auch zwei junge Männer da, die die Anwesenheit des jeweils anderen nicht ohne Dankbarkeit registrieren. Die Kursleiterin bittet, ihr in den Seminarraum zu folgen.

Nun entwickle mal dein Potenzial! 25 prüfende bis skeptische Blicke treffen die Psychologin und Künstlerin Michele Gauler. Da moderne Menschen glauben, ohne Powerpoint-Präsentation keinen klaren Gedanken mehr fassen zu können, zeigt das erste Bild eine Glühbirne, aus der ein grünes Blatt herauswächst. Immerhin, wir müssen zur Begrüßung nicht den Nachbarn zeichnen, wie das in London mitunter passieren soll. Michele Gauler will sich auch nicht mit uns verbrüdern. Wer lieber mit „Sie“ angesprochen werden will, darf sich melden. Niemand besteht auf dieser Distanzformel.

Die Kursleiterin erklärt, gewissermaßen als vertrauensbildende Maßnahme, wie sie diesen Sommer verbracht hat. Sie zeichnete Meteoriten, mehr als 100 Meteoriten. Nicht jeder wird darin auf den ersten Blick eine sinnvolle Beschäftigung erblicken. Sie aber habe gemerkt, wenn sie das mache, gehe es ihr gut, wenn nicht, dann nicht. Ein unhörbares Aufatmen geht durch die drei Stuhlreihen: Da vorn ist offenkundig jemand, der genauso gestört ist wie man selbst, wobei Störung im besten Fall vielleicht nur ein anderer Name für Potenzial ist?

Alles unter einen Hut bringen

Das hängt natürlich von der Zeit ab, in der man lebt. Alle Zeitalter vor uns hätten wohl die Köpfe geschüttelt und vermutet, wir seien nicht ganz ausgelastet. Und genau das ist der Punkt. Michele Gauler erklärt, dass wir uns in einer Ära des Übergangs befinden: Das Informationszeitalter ende, das „konzeptionelle Zeitalter“ beginne. Negativ ausgedrückt, hieße das, die technische Entwicklung macht uns, deren Urheber, tendenziell überflüssig, also arbeitslos. Klassisches Zauberlehrlingssyndrom. Positiv-potenzialistisch gesprochen: Sie verurteilt uns zur Seinsweise der wenigsten, der Künstler. Sie verurteilt uns zum Schöpfertum. Michele Gauler umgeht gekonnt die Frage, ob darin nicht eine Strafe liegen könne. Schließlich waren die meisten Künstler – siehe Proust, Rilke, Nietzsche, eigentlich fast alle – exemplarisch unglücklich. Die haben zwar ihr Potenzial verwirklicht, wenn man das so deformiert ausdrücken wollte, aber um welchen Preis!

Den ganzen Irrsinn ... ? Das klingt nicht gut

Und auch der Proust-Spezialist Alain de Botton profitierte natürlich von einem Effekt, den er nicht extra benannte: Je mehr man über den Sucher nach der verlorenen Zeit erfuhr, desto normaler fühlte man sich, geradezu unverschämt normal. Ist unser Leben nicht schon deshalb gelungen, weil es uns nicht dazu verurteilt hat, Marcel Proust zu werden?

Und jetzt möchte Michele Gauler gern wissen, was für uns Erfolg ist, oder wen wir als erfolgreich bezeichnen würden. „Michelle Obama!“, ruft ein grauhaariges Sphinxgesicht ohne Zögern aus der ersten Reihe. Die anderen schauen leicht irritiert. „Selbstbestimmt arbeiten“, schlägt eine etwas müde Stimme aus der letzten Reihe vor, in jenem Ton, in dem man Dinge ausspricht, die nah und fern zugleich sind, einfach, und trotzdem unerlangbar. „Den ganzen Irrsinn unter einen Hut zu bringen, das wäre Erfolg!“, ergänzt eine junge Frau mit Rasta-Locken aus der ersten Reihe. Den ganzen Irrsinn ... ? Das klingt nicht gut. Das klingt, als ob dieser Drei-Stunden-Kampfbund der Selbstverwirklicher akut in Gefahr ist, sich in eine Burn-out-Selbsthilfegruppe zu verwandeln.

Hat der Erfolg glücklicher gemacht?

Doch da landet Michele Gauler ihren zweiten Coup. Eines ihrer Kunst-Projekte habe es bis ins MoMA geschafft. Das war zweifellos ihr größter Erfolg, aber hat er sie glücklicher gemacht? Durfte sie denn jetzt noch Meteoriten malen? Und die vom eigenen Erfolg Gedemütigte beschloss irgendwann: Ich darf! Erfolg ist eine zwar nicht entbehrliche, aber doch recht äußerliche Kategorie.

Der Pegel der Zuversicht steigt. Und er steigt noch weiter, als sich alle aufgefordert sehen, sich auf sieben Situationen zu besinnen, in denen sie sich „am lebendigsten“ gefühlt haben. Sie mögen ihrem Nachbarn davon berichten. Die potenzielle Burn-out-Selbsthilfegruppe verwandelt sich in eine Gemeinschaft der Antizipierenden, der Glücksfühligen. Die junge Frau, die es satt hat, „den ganzen Irrsinn unter einen Hut“ zu bringen, bricht in ein Lob des Gartens aus. Auf Balkonen leben! Nein, nicht auf Balkonen, auf dem Land! Eine andere sagt: Druck und Stress, und dies und das und alles zugleich, sie wisse selbst, dass es seltsam klingt, doch genau dann, wenn sie all diese Unzuträglichkeiten beieinander habe, bemerke sie, dass sie lebe. Was unter keinen Hut passt, doch darunterschieben! Die meisten Philosophen kennen diesen Punkt des Sich-am-lebendigsten-Fühlens. Sie nannten ihn das Nunc-stans des erfüllten Augenblicks, das zeitlose Jetzt. Dieser Welt-und-Selbst-Einklang ist nur augenblickshaft möglich, aber wo er beginnt, ganz zu fehlen, läuft etwas gegen uns.

Lebenskunst statt Lebenshilfe

Thomas Biller schaut auf die Schüler des Lebens, die zur Pause ans Buffet strömen oder dem, was davon übrig ist. Er mag ihre gelösten Gesichter. Er weiß, dass fast alle die vertrauten Gespräche mit völlig Fremden als besonders befreiend empfinden. Und vielleicht sind es die ironischen Brechungen, die die „School of Life“ auch für solche erträglich machen, die auf Lebenshelfer leicht allergisch reagieren. Abstand halten dürfen! Und warum nicht Lebenskunst sagen statt Lebenshilfe?

Als Thomas Biller noch Thomas Biller, der Comedy-Fernsehproduzent war, war er ein Medien-News-Junkie. In seinem zweiten Leben hat er nie mehr eine Website aus der Welt der Einschaltquoten geöffnet.

Es ist nie zu spät für ein neues Leben, er selbst ist der Beweis. Als Spitzenkoch aber war er nicht spontan genug, jemand, der immer noch einmal grammgenau abwiegt, ein Pedant, ein Perfektionist. Euer größter Feind ist der Perfektionismus, hatte Biller bei de Botton gelernt.

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