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Atomkraftwerk mit Meerblick. Auf der Halbinsel Olkiluoto an der finnischen Westküste entsteht einer der modernsten Reaktoren der Welt. Foto: Bob Strong/Reuters

© REUTERS

Politik: Schrauben an der falschen Stelle

In Finnland wird ein Atomreaktor gebaut – doch bei dem einstigen Vorzeigeprojekt läuft seit Jahren kaum etwas nach Plan

Eine Villa würde man auf dieser Halbinsel an der Westküste Finnlands vermuten, vielleicht einige Sommerhäuschen. Den Weg nach Olkiluoto säumen rote, gelbe und blaue Holzhäuser, weit voneinander entfernt und leicht verwittert. Die kleine Straße endet vor einem Metalltor, durch das nahezu ununterbrochen Lastwagen und Kleintransporter fahren. Ganz am Ende der Halbinsel, nah am Wasser, liegt die Baustelle. In 65 Metern Höhe wird derzeit ein kuppelförmiges Dach gebaut, so stabil, dass es sogar dem Absturz von Flugzeugen standhalten soll, wie die Bauherren versichern. Hier, gut 200 Kilometer nordwestlich von der Hauptstadt Helsinki, entsteht Finnlands fünfter Atomreaktor.

Ursprünglich galt „Olkiluoto 3“ als Vorzeigeprojekt der europäischen Atomindustrie. Eine Anlage neuen Typs sollte entstehen, der erste europäische Druckwasserreaktor, gebaut vom französischen Konzern Areva in Zusammenarbeit mit Siemens. Das deutsche Atomforum verschickte vor ein paar Jahren sogar Postkarten mit Motiven aus Finnland. Sie zeigten einen Bären, ein rotes Häuschen, zwei Stühle am See – und die beiden bereits bestehenden Reaktoren in Olkiluoto. Eine Idylle, in der die Welt aus Sicht der Atomindustrie noch in Ordnung war. Finnland hat nach der Katastrophe von Tschernobyl als erstes Land Europas den Bau eines neuen Reaktors beschlossen, eine Mehrheit der Bevölkerung befürwortet die Atomkraft, und mit der Suche nach einem Endlager ist Finnland weiter als jedes andere Land der Welt. Im vergangenen Sommer gab das Parlament grünes Licht für zwei weitere Reaktoren.

Doch selbst unter diesen scheinbar idealen Rahmenbedingungen entwickelte sich das Vorzeigeprojekt keineswegs nach Plan. Ursprünglich hätte der Reaktor, der seit 2005 gebaut wird, schon vor zwei Jahren ans Netz gehen sollen. Angesichts unzähliger Mängel musste die Inbetriebnahme jedoch auf 2013 verschoben werden, die ursprünglich veranschlagten Kosten von 3,2 Milliarden Euro sollen sich inzwischen bereits verdoppelt haben. Areva und die finnische Betreiberfirma Teollisuuden Voima (TVO) streiten sich in einem Schiedsverfahren darüber, wer die Mehrkosten tragen soll. Laut Vertrag soll der Reaktor schlüsselfertig an TVO geliefert werden – als handele es sich um ein Reihenhaus und nicht um eines der modernsten Kraftwerke der Welt.

Bisher wurden nach Angaben der Strahlenschutzbehörde STUK, die für die Sicherheit der Atomkraftwerke verantwortlich ist, von den Beteiligten mehr als 4000 Mängel aufgelistet. Aus Sicht der Behörde ist das aber kein Grund zur Sorge. „Die Fehler werden gemeldet und korrigiert“, sagt Petteri Tiippana, Direktor der Abteilung für die Regulierung der Atomreaktoren. „Die Zahl sagt vor allem etwas über das Niveau der Qualitätskontrolle und der Inspektionen.“ Auch im Wirtschaftsministerium in Helsinki sieht man die Mängelliste gelassen. Es gebe zwar tausende von Fehlern beim Bau des Reaktors, sagt Riku Huttunen, stellvertretender Generaldirektor der Energieabteilung. „Aber in vielen Fällen handelte es sich um kleinere Probleme, etwa eine Schraube an der falschen Stelle.“ Er sei sicher, dass die Franzosen wussten, dass Finnland strenge Sicherheitsregeln habe und dass es dabei keine Kompromisse gebe, fügt er noch hinzu.

Ein ganz anderes Bild zeichnen polnische Arbeiter, die in Olkiluoto beschäftigt waren und im Auftrag von Greenpeace befragt wurden. Sie berichten von sehr großem Zeitdruck, der fast zwangsläufig zu Fehlern führte. Weitere Verzögerungen beim Bau sollten offenbar unbedingt vermieden werden. Deshalb besserten die Arbeiter Mängel oft nicht nach, sondern versuchten sie zu verbergen. Wenn etwa Verbindungsstücke in der Stahlkonstruktion fehlten, wurde einfach Beton über die Stelle gegossen. „Niemand weiß, wie viele Fehler mit Beton zugedeckt wurden“, sagte einer der Arbeiter. Ein anderer berichtete, ein Subunternehmen habe angeordnet, Mängel in einem sicherheitsrelavanten Bereich zu verdecken. „Die Inspekteure von Areva haben folglich einige der Mängel übersehen.“

Areva sieht in dem „langwierigen Überprüfungsprozess“ im Bereich Sicherheit eine der Ursachen für die Verzögerung. Außerdem betont man in der Konzernzentrale in Paris, dass es der erste Reaktor seiner Art sei. „Es ist nicht überraschend, dabei auf Schwierigkeiten zu stoßen“, sagt die Areva-Sprecherin Patricia Marie. Und schließlich habe die Zulieferkette nach einer langen Phase ohne Reaktorneubau erst wieder aktiviert werden müssen. Bei der Betreiberfirma TVO heißt es, die Verzögerungen seien „unglücklich“. Zugleich betont die TVO-Sprecherin Käthe Sarparanta, „Qualität und Sicherheit“ kämen „an erster Stelle“.

Nach der Atomkatastrophe von Fukushima könnte sich die Bauzeit von Olkiluoto 3 angesichts neuer Sicherheitsanforderungen noch verlängern und die Kosten damit weiter steigen, berichtete der finnische Fernsehsender Yle. Das weist TVO allerdings zurück: „Wir sehen keine Notwendigkeit für größere Veränderungen, die den Bau beeinflussen würden“, sagt Sarparanta. Olkiluoto 3 habe für den Notfall sechs Diesel-Generatoren in zwei verschiedenen Gebäuden. Auch eine mögliche Flut mit einer Höhe von „etwa vier Metern“ sei in die Planungen einbezogen. Bei der Strahlenschutzbehörde STUK, die bis Mitte Mai einen Bericht zur Sicherheit der Atomkraftwerke an die Regierung schicken muss, schließt man weitere Verzögerungen dagegen nicht von vornherein aus: Es sei aber zu früh, dazu etwas zu sagen.

„Olkiluoto 3“ soll 60 Jahre in Betrieb sein. Von einem Atomausstieg ist in Helsinki keine Rede – Riko Huttunen vom Wirtschaftsministerium sagt sogar, die Kernkraft solle noch 80 Jahre lang genutzt werden. Finnland hat 2009 knapp 28 Prozent seines Stromverbrauchs über Kernenergie gedeckt, mit dem Bau von zwei neuen Reaktoren wird dieser Anteil noch steigen. Als Gründe für den Ausbau der Atomkraft werden in Helsinki die energieintensive Industrie, besonders die Papierverarbeitung, und der Wunsch nach einer größeren Unabhängigkeit von Stromimporten genannt, die derzeit bei 15 Prozent des Gesamtverbrauchs liegen. „Sollen wir Atomkraftwerke bauen oder sollen wir Strom aus russischen Atomkraftwerken importieren?“, fragt Sixten Korkman, Direktor des Forschungsinstituts der finnischen Wirtschaft.

Wie andere Länder in Europa will auch Finnland den Anteil erneuerbarer Energien ausbauen. Selbst in Olkiluoto steht ein Windrad, in Sichtweite der beiden Reaktoren. Zu Forschungszwecken, heißt es bei TVO. Es produziere in einem Jahr so viel Strom wie Olkiluoto 1 in zwei bis drei Stunden, sagt Sarparanta. „Wir haben hier an der Westküste kaum Wind.“ Auch an diesem Tag steht das Windrad still.

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