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Politik: Schreib- und Lebensregeln

Von Antje Vollmer

Die Schule hat begonnen und damit für die ganz Kleinen das, was sich der Ernst des Lebens nennt. Diesmal aber kommen sie in eine Situation, die nicht der Skurrilität entbehrt. Nach welchen Regeln werden sie richtig schreiben lernen? Nach den Regeln ihrer Eltern, fast aller Schriftsteller dieses Landes, nach den Regeln der großen Zeitungshäuser? Oder werden sie wie die Lämmer die Regeln der Kultusministerkonferenz und ihrer diversen Expertenkommissionen befolgen?

In wenigen Wochen, wenn die Ministerkonferenz getagt hat, werden wir es wissen. Ein selten spannender Prozess öffentlicher Meinungsbildung. Nein, das Vertrauen in die Institution wird nicht mehr erschüttert werden, als es sowieso schon ist, wenn diese so genannte Reform zurückgenommen würde. Nein, es bricht dann kein Chaos in den Computersystemen aus. Nein, Deutschland zeigt dadurch auch nicht, dass es überhaupt reformunfähig ist. Es lernt nur unterscheiden zwischen existenziell Notwendigem und reinen Kopfgeburten.

Wenn wir die Reform zurücknehmen, was ich von ganzem Herzen hoffe, dann werden wir ein paar neue Regeln kennen, die für Schul-, Lebens- und Politikanfänger in gleicher Weise wichtig sind: 1. Breche kein Reform vom Zaun, ohne mit den Hauptbetroffenen und den größten Liebhabern der Sprache eine intensive Auseinandersetzung geführt zu haben. 2. Mache dich kundig, was andere große Sprachfamilien für Erfahrungen haben. Mir ist nicht eine einzige bekannt, die eine so radikale Neuordnung allein nach abstrakten Vernunftregeln vorgenommen hätte. 3. Überprüfe das Kulturverständnis der Personen, die sich Kultusminister nennen. Vor allem: Überprüfe den Verfassungsrang einer Kultusministerkonferenz. Er existiert nicht. 4. Demokratie heißt: Korrigierbarkeit von Entscheidungen. Vorschläge, die sich in der Praxis so wenig bewähren, zu korrigieren, schwächt nicht die demokratischen Meinungsprozesse, sondern stärkt sie. 5. Verstecke dich mit deinen Argumenten nicht hinter dem Rücken anderer. Wenn die Akteure dieser offensichtlich misslungenen Reform permanent mit dem Kindes- und Schülerwohl argumentieren, sind Zweifel angebracht. 6. Lass deine Sprache nicht verarmen! Sie ist ein Stück deiner eigenen Geschichte und Identität, deren vielfältige Ausdrucksformen über Jahrhunderte dazu gedient haben, ganz genau das auszudrücken, was man meint. 7. Wir sind alle klüger geworden bei diesem Prozess.

Die Autorin ist Vizepräsidentin des Bundestags und Mitglied der Grünen.

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