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Politik: Schuld hat das Kollektiv

Von Antje Sirleschtov

Jeder vierte Ostdeutsche, sagt Helmut Schmidt, und Achtung: er schließt die Westberliner ausdrücklich mit ein, ist ein potenzieller Neonazi-Wähler. Schuld daran seien all die Regierungen seit 1990, von Helmut Kohl über Gerhard Schröder bis zu Angela Merkel. Schmidt sagt, sie hätten es still geduldet und täten es noch immer, dass ein ganzer Landstrich Deutschlands in ökonomischer Hoffnungslosigkeit und bald auch politischer Frustration untergeht. Und dass nichts dagegen getan werde, außer natürlich Milliarden rüber zu schieben.

Ein eingängiger Befund ist das, oft gedacht und ausgesprochen: Alles anders müsste man machen, und die da oben an der Regierung bekommen zu Recht Denkzettel für ihre schlimmen Fehler. Doch ganz so einfach ist das nicht. Historisch gesehen lässt sich kaum sagen, dass es nach dem Zusammenbruch der DDR nur einiger klügerer Schachzüge der – damals noch Bonner – Politik bedurft hätte, um den Osten wirtschaftlich erblühen zu lassen. Und eine politische Bankrotterklärung der Demokraten wäre es, den Einzug extremistischer Ansichten in die Köpfe der Wähler auf das Versagen einiger Regierender abzuschieben. Auch wenn dieses Argument gerade nach Wahlen gern vorgetragen wird, ist es oft nicht mehr als das Zurückweichen vor der Verantwortung jedes Einzelnen. Der in der DDR so gerne gebrauchte Satz von den „Genossen da oben, die sich schon was dabei gedacht haben werden“, stammt bekanntermaßen aus einer diktatorischen Zeit. Und Demokratie – das ist der Unterschied zur Herrschaft des Politbüros – fängt unten an.

Gleichwohl kann man heute, im Jahr 2006, schwer seufzen über all das, was die CDU-FDP-Regierung vor 16 Jahren gemacht hat – und was sie unterlassen hat. So hätte Kohl den Einheitstrubel zu kräftigen Steuererhöhungen nutzen müssen, um die Sozialstaatslasten nicht allein den Solidarkassen aufzubürden. Und sechs zwergenhafte Bundesländer-Beamten-und-Bürokratie-Maschinen aus dem Boden zu stampfen, war im besten Fall auch nicht mehr als ein Missverständnis der Idee, den Ostdeutschen regionale Heimatverbundenheit zu geben. Ganz zu schweigen vom heuschreckenartigen Überfall gutmeinender Gewerkschafter, deren Lohnerhöhungspolitik Arbeitsplätze zerstört hat. Weitere Beispiele füllen ein Universum für Doktorarbeiten.

Doch der grollende Blick zurück nützt heute niemandem mehr. Robotron und Interflug sind platt, die Abiturienten aus Anklam wissen längst, dass ihre Zukunft in Hamburg oder New York liegt. Das musste auch Klaus von Dohnanyi erkennen, als er vor einiger Zeit forderte, das Ruder in der Ostförderung radikal herumzureißen. Auch er schwang die Extremismuskeule. Zu Recht wurden seine Pläne eingestampft, denn man kann eben heute aus Vorpommern keine Sonderwirtschaftszone mit niedrigeren Steuern und Löhnen mehr machen und damit künstlich einen Teil Deutschlands wieder ausgliedern, der sich seit bald zwanzig Jahren auf dem Weg der Integration befindet.

Der Osten, daran muss man sich erinnern, ist 1990 auf ein ökonomisches und politisches System getroffen, das den Glaubenssätzen der sechziger und siebziger Jahre noch immer anhaftete und dem es bis heute sehr schwer fällt, Abschied von den Mechanismen des einstigen deutschen Wirtschaftswunders zu nehmen. Politische Mehrheiten für einen dritten Weg gab es weder im Osten noch im Westen. Dass Sozialtransfers allein keine Arbeit, dafür aber viel Frust und zuweilen politisch extreme Wirrnis stiften, das ist in unserem gesellschaftlichen Bewusstsein doch erst seit einiger Zeit wirklich angekommen. Genauso die Erkenntnis über den Wert von Bildung, den Folgen der Alterung, der Funktionsweise von Solidar- und föderalen Verwaltungssystemen. Der schwere Abschied vom Alten und die Angst vor neuen – manchmal auch gewagten – Experimenten haftet uns allen an. Da gibt es kaum einen Unterschied zwischen Ost und West. Etwas zu kurz gegriffen ist es daher, nur einigen Regierenden Naivität, Ignoranz und Fehler beim Aufbau Ost vorzuwerfen. Denn, nicht vergessen: Wir haben sie gewählt. Und wir sind das Volk.

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