zum Hauptinhalt
Die Jugend in Griechenland kämpft für Sicherheit und Freiheit.

© dpa

Schuld seid ihr!: Weshalb die Griechen Hilfe verdienen

Konsens? Unmöglich. Verantwortung? Warum? Die Griechen sind nicht zur Selbstkritik fähig, ihre rationale Denkweise ist anders strukturiert als im übrigen Europa. Und trotzdem gibt es gute Gründe, sie gerade jetzt zu unterstützen. Ein Appell.

Seit 42 Jahren lebe und arbeite ich als Berliner im Mutterland der Demokratie. Wer Griechenland verstehen will, muss es lieben können. Meine Liebe zu Griechenland war von solch ungezügelter, schwärmerischer und naiver Hingabe, dass mich griechische Freunde von Anfang an mit aufrichtiger Schonungslosigkeit auf Eigenarten und Regeln in diesem Land aufmerksam machten, um mich vor Enttäuschungen zu bewahren. Der Grund vieler Missverständnisse, besonders in den letzten Wochen und Monaten, liegt in einer grundsätzlichen anderen Nootropia, einer Denkweise und Lebensart, die mit den meisten anderen europäischen Ländern noch nicht kompatibel ist.

Ich lebe intensiv in diesem wunderbaren Land, in dem ich in all den Jahren nur menschliche Zuneigung und Wärme erfuhr. Ich lernte aber auch, dass sich Menschen hier seit der Befreiung von der Osmanenherrschaft – selbst im gemeinsamen Siegesglück – im Wege standen, oder sich sogar gegenseitig aus dem Weg räumten, bis sie heute aus Neid und Missgunst unfähig sind, einen runden Tisch zu bilden, um in Zeiten der Not einen gemeinsamen Konsens herbeizuführen.

Ich lernte auch, dass ich in einem Land lebe, in dem die meisten Menschen weder lang- noch mittelfristig planen wollen, sondern nur von der eigenen offenen Hand in die eigene Tasche denken, in dem sich jeder selber der Nächste ist, in dem der bestochene Schuldige sich selbst bedauert, obwohl – um den Apostel Paulus zu zitieren – Geben seliger als Nehmen ist.

Nun wird das Tafelsilber, wie zum Beispiel der Hafen von Piräus, an die Chinesen verhökert, die in Zukunft mit Fleiß, Geduld und ohne ständige Streiks alles vergolden werden. Dann wird in ein paar Jahren nur noch auf die Chinesen geschimpft. Sie lösen damit die Amerikaner ab, die hier seit Jahrzehnten selbst für das schlechte Wetter und die falschen Lottozahlen verantwortlich waren.

Ich lebe aber auch in einem Land, in dem die rationale Denkweise anders strukturiert ist als im übrigen Europa, in dem Selbstbewusstsein oft in Selbstüberschätzung endet und vielen Menschen beim Ausleben von Gefühlen die notwendige Selbstdisziplin abhanden kommt. Griechen sind zur Selbstkritik nie fähig, da ohnehin immer der andere die Schuld hat.

In keinem anderen Land Europas stehen vor den Parlamentswahlen hunderttausende Menschen mit Fahnen und Transparenten auf den Straßen und Plätzen. Vor jedem kleinen und oft korrupten Provinzpolitiker knickt man ein und schlabbert seine Hand, nur um sich einen Vorteil zu verschaffen, damit der Radlader besser ausgelastet wird, oder Sohn oder Tochter kurzfristig einen Job bekommen. Klappt das nicht, werden in vier Jahren die Fahnen und die Beamten ausgewechselt. Nibelungentreue gibt es nur in deutschen Heldensagen, nicht aber in der griechischen Mythologie.

Ich lernte in diesem Land auch, dass Verantwortliche nicht fähig sind, verkrustete Strukturen des Bildungs- und Gesundheitssystems zu reformieren und damit ihre Kinder und Jugend verraten, die somit bald wieder wie ihre Großväter ins Ausland getrieben werden, und ich lernte hier auch, dass in diesem Land in der Politik die Brandstifter und Zündler sich ganz unbeschadet wieder als Brandmeister inthronisieren. Ich erfuhr hier, dass man in kaum einem anderen Land seine Charaktereigenschaften, wie Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit und Standhaftigkeit mehr härten kann als unter trickreichen griechischen Landsleuten, und in kaum einem anderen Land wird der Kampf um die Wahrheit so aussichtslos geführt wie in diesem Land. Platon, der seelenverwandt seine Landsleute gut kannte, behauptet auch: Das Falsche entsteht im Wort, das Wort entsteht im Denken, und wer Nichtseiendes denkt und aussagt, lügt.

Nun, all jene, die heute in Griechenland versagen und den jetzigen Zustand mitverschuldet haben – ohne das Spiel der internationalen Finanzsysteme hier zu erwähnen – sind jene, die noch von ihren Vätern und Großvätern geprägt wurden, die den Verlust Konstantinopels und Smyrnas nicht verschmerzt hatten, die Vertreibung danach, die unter der Besatzung Hitlerdeutschlands und dem Bürgerkrieg litten und sich gegen eine Junta wehren mussten. Mit dem Überlebenskampf entwickelten sich Neid, Missgunst, Lüge und der Verlust des Vertrauens in den Staat.

Die griechische Jugend von heute jedoch denkt wie jede Jugend in aller Welt. Sie sehnt sich nach Frieden und Sicherheit. Erschütternd sind die Prognosen, die Griechenland nicht nur soziale Unruhen, sondern sogar bürgerkriegsähnliche Zustände prognostizieren. An dieser Stelle fällt mir der Spruch von Herodot ein: Niemand ist so ohne Vernunft, dass er den Krieg dem Frieden vorzieht, denn im Frieden begraben die Kinder die Väter, und im Krieg begraben die Väter ihre Kinder.

Deshalb ein Appell an alle verantwortlich Handelnden: Pflegt das kleine Pflänzchen Griechenland, das sich nicht zu Unrecht von Intrigen und bösen fremden Mächten umzingelt sieht, das Land, dass dem Ölbaum gleich, robust und hart scheinend, doch zart und empfindsam an Rinde und Kambium ist. Rettet die griechische Jugend, die an dieser Misere nicht schuld ist. Lasst sie nicht allein in den kommenden Stürmen und Unwettern.

Petros Rottwinkel, geboren 1939 in Berlin, ist Architekt. 1989 erwarb er ein Haus in Griechenland und lebt seit 1996 als Publizist und genossenschaftlich organisierter Olivenbauer auf der Insel Thassos.

Petros Rottwinkel

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false