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Schule und Bildung: Jedes Kind ein Bürger

Eine Gesellschaft ist nur so gut wie ihr Menschenbild. Zentraler Indikator dafür sind die Bildungschancen in Kindergärten und auf Grundschulen.

Von Caroline Fetscher

Wir schreiben das Jahr 2022. Besuch an einer staatlichen Grundschule in einer Großstadt im Spätsommer um die Mittagszeit. Im Pausenhof klettern Kinder auf einem Gerüst aus Baumstämmen herum, andere haben sich in ein begrüntes Atrium zurückgezogen und lesen still für sich. Manche gehen zur Klavierstunde, das ist hier kostenlos. Wer will, kann mittags im Ruheraum liegen und mitgebrachte Musik hören, in den Werkstätten basteln oder Basketball spielen. Überall wirkt diese Schule hell, freundlich, sauber und einladend.

Für die 600 Kinder aus 24 Nationen, die sich an diesem utopisch anmutenden Ort von morgens sechs bis abends sechs Uhr aufhalten dürfen, gibt es keine Hausaufgaben. Stattdessen assistieren Lehrer jeden Morgen nach dem Frühstück beim individuellen Lernen. Es gibt auch keine Noten. Stattdessen wird jedes Kind differenziert nach seiner Fähigkeit beurteilt. Aber welche Klasse am meisten Bücher gelesen hat, darum wetteifern sie wie wild. Originelle Möbel und Sitznischen ähneln Drachenkrallen, Seesäcken oder Liegestühlen, die Schüler haben sie selber entworfen, Architekturstudenten die Entwürfe umgesetzt. Die Klassen erfinden ihre eigenen Theaterstücke, ein Schülerparlament stimmt über das Jahresthema ab. Gewaltprobleme? Kennt man hier nicht. Das Klima wirkt angstfrei, fröhlich, gelöst.

Und wir schreiben gar nicht das Jahr 2022.

Wir sind mitten im Jahr 2009, die geschilderte Schule ist real. Sie funktioniert seit zehn Jahren ganz genau so, mitten im Berliner Armutsstadtteil Wedding. Sie wurde nominiert für den Deutschen Schulpreis, heißt Erika-Mann-Grundschule und wird zu achtzig Prozent von Kindern mit Migrationshintergrund besucht. Zwei Dutzend Erzieherinnen assistieren dem Kollegium. Die Schule arbeitet mit einer Buchhandlung zusammen, mit einem lokalen Theater, mit Werkstätten und Fachhochschulen.

Ziele und Prinzipien der Schule: Freude am Lernen und an Bildung, Akzeptanz des Gesellschaftssystems, Verantwortung für eigenes Handeln, Nächstenliebe, Ehrlichkeit, Höflichkeit, Hygiene, das Beachten von Regeln. Vor den Sommerferien sagte ein Mädchen über das zurückliegende Schuljahr: „Das Schönste für mich war, dass ich klug geworden bin.“ Von diesem Lernort wollen viele lernen. Neulich waren Lehrer aus den Niederlanden da, Ende September werden Gäste aus London erwartet. Oft führt die Schulleiterin Karin Babbe Besucher herum. Öffnet die schmale und elegant gekleidete Frau von Anfang fünfzig die Türen im Schulbau, scheint es, als würde sie Schatzkammern aufschließen. „Sicher“, sagt Babbe, „viele unserer Kinder bringen Belastungen von zu Hause mit.“ Gerade darum sei es so wichtig, dass ihnen Schule optimale Bedingungen bietet.

Wie ist das alles möglich? Mit staatlichen Mitteln? In einem Armenviertel? Es ist möglich, weil Lehrer bewusst ausschöpfen, was ihnen an Energie, Erfahrung, Mitteln und Fantasie zur Verfügung steht, weil sie mehr leisten, als staatlich vorgesehen. „So etwas wie den Instrumentalunterricht finanzieren wir über Honorarmittel aus dem Budget für Personalkosten oder es sind Zusatzangebote der Erzieherinnen im Ganztagsbetrieb“, erklärt Babbe. Pädagogisches Konzept? „Wir nehmen von jedem das, was unsere Kinder brauchen.“

Ein durchdachter Lernort wie die Erika-Mann-Grundschule spiegelt einen hohen Entwicklungsstand in einem langen Prozess, er verhält sich zu Schulen von früher, wie die Rassel zum Symphonieorchester. Zentral für den Prozess ist die wachsende Erkenntnis, dass gut und respektvoll nur werden kann, wer als Kind gut und respektvoll behandelt wurde. Innovative Praktiker wie der Schweizer Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) und die Italienerin Maria Montessori (1870– 1952) hatten bahnbrechende Wirkung auf Schule und Erziehung. Unter dem Eindruck der Barbarei des NS-Regimes entstanden nach 1945 Initiativen wie der „Arbeitskreis Neue Erziehung“, und diese verfochten einen neuen, demokratischen Umgang mit Kindern. Knapp zwanzig Jahre später, 1968, brach der Aufstand der Jüngeren gegen jedwede Autorität aus und brachte neben exzessiven Experimenten einen Wandel der Pädagogik. Dennoch dauerte es noch einmal fast dreißig Jahre, bis Gewalt als Mittel zur Erziehung im Dezember 2000 per Gesetz geächtet wurde.

Heute ist ein Lernort wie die Erika-Mann-Schule nicht mehr singulär. 250 reformorientierte Schulen bewarben sich 2008 für den Deutschen Schulpreis, viele mit überragenden Erfolgen. Aber: Einen Anspruch auf solches Lernen haben Deutschlands Kinder nicht. Bildung entspricht einer geografischen und biografischen Lotterie – nur wer ungewöhnliches Glück hat, kommt auf eine Erika-Mann-Schule, und laut Befund der OECD sind Bildungschancen in Deutschland mehr als sonst in Europa an den Status des Elternhauses gekoppelt. Der Bundesetat für „Bildung und Forschung“ macht gerade mal drei Prozent des Gesamtkuchens aus.

Längst ist es höchste Zeit, Früherziehung und Schulen nicht nur beim plakativen „Bildungsgipfel“ dezidiert zur Bundessache zu erklären. Und längst ist es an der Zeit, aus den produktivsten Reformschulen für die gesamte Republik Konzepte herauszudestillieren, die normativ und richtungweisend sind. Bisher setzen sich Reformer gegen einen zähen Apparat durch, der allein bei Katastrophenalarm („Amokläufer!“ „S-Bahn-Mörder!“) vorübergehend infrage gestellt wird. Dann geht es weiter wie zuvor mit Notendruck, Unterrichtsausfall, Schwänzen und Mobbing. Seit dem Pisa-Schock nimmt die verständliche Abwanderung sogenannter Bürgerkinder in private Lehranstalten zu. Am anderen Ende der Skala leistet sich die Gesellschaft etwa 80 000 Jugendliche pro Jahr, die ohne jeden Abschluss das System Bildung verlassen, um ins System Transferleistung zu wechseln.

Renoviert werden muss das gesamte Gebäude „Bildungssystem“ – und mit ihm das Menschenbild, für das es steht. Von der CDU bis zu den Grünen wird gern trompetet, Kinder und Jugendliche seien ein „kostbarer Rohstoff“, eine „wichtige Ressource“, sie seien „die Zukunft“. Diese Formeln sind so entlarvend wie faktisch falsch. Kinder sind kein „Rohstoff“. Kinder sind lebendige Leute mit Wünschen, Ängsten, Begabungen, Hoffnungen. Kinder sind auch nicht „die Zukunft“. Sie leben in der Gegenwart, in der sie ein Recht auf Würde und Glück besitzen, und sie werden eines Tages die Zukunft herstellen. Je mehr Chancen und Wertschätzung sie erhalten, umso besser werden sie das meistern. Vor allem sollten Kinder als Individuen gesehen werden, ist Ute Frevert vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung überzeugt. Es sei begrüßenswert, sagt sie, dass Millionensummen in universitäre Exzellenzinitiativen gesteckt werden. Wichtiger als alles andere aber seien frühkindliche Förderung und Grundschulerziehung.

Der Staat muss damit anfangen, sich selber wie uns allen beizubringen, dass jedes Kind ein Bürgerkind ist. Jedes Kind ist ein Bürger unseres Staates, ganz gleich, ob zum Lebensstil seiner Eltern Glotze und Gewalt anstatt Goethe und Geige gehören, ganz gleich, ob seine Eltern es zwar gut meinen, aber kein gutes Deutsch können, ganz gleich, ob seine Eltern Einheimische sind oder Eingewanderte. Jedes Kind verdient eine Schule wie die Erika-Mann-Grundschule in Berlin. Jede Schule verdient es, optimal ausgestattet zu werden. Denn jedes, absolut jedes Kind ist ein Bürgerkind.

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