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Seit Wochen wird in Ägypten wieder auf dem Tahrir-Platz demonstriert. Die Menschen sind unzufrieden mit dem stockenden Reformprozess.

© AFP

Sechs Monate später: Was vom Arabischen Frühling übrig ist

Umbruch in Nahost: Nach den spektakulären Volkstriumphen in Tunesien und Ägypten wird die Orientierung schwieriger, die revolutionäre Fahrt stockt. Nach einem halben Jahr eine erste Bilanz unseres Korrespondenten.

Über Arabien verdichtet sich der Nebel. Nach den spektakulären Volkstriumphen in Tunesien und Ägypten wird die Orientierung schwieriger, die revolutionäre Fahrt stockt. Sechs Monate nach der Flucht des tunesischen Diktators Zine al Abidine Ben Ali zweifeln Millionen junger Menschen in Tunis und Kairo an ihrer neuen Zukunft, während sich die verbliebenen Potentaten der Region immer erbitterter gegen ihren Sturz wehren. In Libyen herrscht Bürgerkrieg, in Syrien Staatsterror, im Jemen Staatszerfall. Umbruch in Nahost - nach einem halben Jahr eine erste Bilanz unseres Korrespondenten Martin Gehlen.

Libyen

Muammar al Gaddafi lässt weiter kämpfen. Die Munition scheint ihm nicht auszugehen, solange Millionen von Dollarnoten in den Kellern der libyschen Zentralbank lagern. Doch politisch läuft die Uhr gegen den Despoten, der seit 42 Jahren an der Macht ist. Seine Truppen haben sich nahe der Ölstädte Brega und Ras Lanuf eingegraben. Auch Gaddafis Heimatstadt Sirte ist weiterhin fest in seiner Hand. In den Nafusa-Bergen nahe Tunesien wiegen die Gefechte seit Tagen hin und her. Dagegen wird der Druck der Rebellen mithilfe der Nato nun erstmals auch in Tripolis spürbar. Immer häufiger sind in der Hauptstadt nachts Feuergefechte zu hören, unter den Bewohnern herrsche eine Atmosphäre von „Furcht und Paranoia“, berichten Flüchtlinge. Alle Moscheen werden streng überwacht, Scharfschützen lauern auf den Dächern. Manchmal lassen Menschen von ihren Balkonen Luftballonsaufsteigen, bemalt mit der dreifarbigen Königsflagge der Rebellen. Die lange umkämpfte Hafenstadt Misrata ist jetzt fest in der Hand der Aufständischen, die für Tripolis wichtige Küstenstraße nach Tunesien immer wieder durch Kämpfe unterbrochen.

Gespaltenes Land. Machthaber Gaddafi hat immer noch viel Rückhalt.
Gespaltenes Land. Machthaber Gaddafi hat immer noch viel Rückhalt.

© dpa

Zahlreiche Vermittler sind inzwischen am Werk, die einen politischen Ausweg aus der Krisesuchen. Die Afrikanische Union konnte den selbsternannten „Bruder Führer“ bisher nicht zu einem Machtverzicht überreden, ebenso wenig diplomatische Emissäre aus Russland und der Türkei. Stattdessen gibt sich der Despot, der inzwischen vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag per Haftbefehl gesucht wird, nach außen ungebrochenkämpferisch. „Die Nato soll nicht glauben, sie könne die Regierung des Landes stürzen“, bellte er in seiner jüngsten Audio-Botschaft, die er am Wochenende vor Regime-Anhängern in der Wüstenstadt Sabha abspielen ließ. „Die Regierung Libyens wird nicht fallen, denn sie ist eine Regierung des Volkes.“

Dagegen findet der Provisorische Nationalrat der Rebellen, der seinen Sitz in Bengasi hat, immer mehr internationale Anerkennung. Zwei Dutzend Staaten sehen in ihm inzwischen die legitime Vertretung des libyschen Volkes, darunter nach langem Zögern auch Deutschland. Viele europäische Nationen haben bereits Niederlassungen errichtet und bereiten sich auf die Zeit nach Gaddafi vor. Vergangene Woche nahm Polen, was den Vorsitz in der Europäischen Union hat, offiziell diplomatische Beziehungen auf und beorderte seinen Botschafter von Tripolis nach Bengasi. „Polen sieht keine Möglichkeit mehr einer Zusammenarbeit mit Oberst Gaddafi“, erklärte der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski in Warschau.

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Präsident Saleh vergangene Woche, das Gesicht voller Brandverletzungen, Arme und Hände bandagiert.
Präsident Saleh vergangene Woche, das Gesicht voller Brandverletzungen, Arme und Hände bandagiert.

© REUTERS

Ägypten

Die Zelte stehen zum zweiten Mal, die Demokratiebewegung macht mobil. Tausende campieren wieder auf dem Tahrir- Platz in Kairo, dem Epizentrum des 18-tägigen Volksaufstandes gegen Hosni Mubarak. Nervosität und Frustration im Land wachsen, die Wirtschaft kommt nicht auf die Beine und die Kriminalität grassiert. Und immer mehr Menschen zweifeln, ob der herrschende Militärrat es wirklich ernst meint mit dem Weg in die Demokratie und der Zerschlagung des alten Regimes. „Wir haben Mubarak davongejagt und Tantawi bekommen“, klagen sie über den 75-jährigen General an der Staatsspitze und werfen ihm vor, die Aufarbeitung der Diktatur zu blockieren. „Wir wollen ein wirkliches Aufräumen, ernsthafte Strafverfahren und eine demokratische Regierung“, meint die junge Ärztin Weam Naher, die der „Koalition der revolutionären Jugend“ angehört, dem Dachverband der jungen Reformer. „Von einem echten Wandel haben wir bisher noch nichts gemerkt“, sagt die 30-Jährige.

Vor allem die schleppenden Gerichtsverfahren gegen schießwütige Polizisten und ihre Vorgesetzten, die 850 Tote und tausende Verwundete auf dem Gewissen haben, bringen sie und ihre Mitstreiter auf die Barrikaden. Der Prozess gegen den damals verantwortlichen Innenminister Habib al Adly wird seit April unter fadenscheinigen Vorwänden verschleppt. In Suez setzte das Gericht letzte Woche alle 14 angeklagten Polizeioffiziere gegen geringe Kautionen auf freien Fuß und verschob ihr Verfahren auf Mitte September. Empörte Angehörige steckten daraufhin Polizeiautos und Regierungsgebäude in Brand. Und ob der Mordprozess gegen den gestürzten Staatschef Mubarak am 3. August tatsächlich eröffnet wird, steht in den Sternen. Um die Gemüter zu beruhigen, forderte Premierminister Essam Sharaf die Justiz jetzt per Fernsehansprache auf, die Prozesse zügig durchzuziehen.

Gleichzeitig empfinden viele Bürger die für Ende September angesetzten Parlamentswahlen als zu früh. Praktisch keine der neuen Parteien ist in der Lage, bis dahin im ganzen Land präsent zu sein. Einzig die Muslimbruderschaft und Mubaraks alte Seilschaften haben ihre politischen Batallione gut organisiert. Und so fürchtet die Demokratiebewegung, diese beiden etablierten politischen Lager könnten das neue Parlament von Anfang an dominieren und die Hauptlinien der neuen Verfassung unter sich ausmachen. Sie fordert darum, den Spieß umzudrehen. Zunächst soll mit einem Grundgesetz das Fundament für Ägyptens Demokratie gelegt und danach erst Volksvertretung plus Präsident bestimmt werden.

Aber nicht nur auf dem Tahrir-Platz, an allen Ecken und Cafés der Nil-Metropole wird diskutiert – über soziale Gerechtigkeit und faire Löhne, über Toleranz und Religionsfreiheit, über Islam und Politik. Die Angst ist weg, jeder kann den Mund aufmachen, die Debatten überschlagen sich. Und trotz aller Zweifel, die Mehrheit schaut optimistischer in die Zukunft als unter Mubarak – das jedenfalls hat eine repräsentative Umfrage des Abu Dhabi Gallup Zentrums ermittelt. „Ägypter sind nun stärker motiviert, sich für ihr Land einzusetzen“, heißt es in dem Fazit der Meinungsforscher.

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Die Wirtschaft stagniert. Die Nachbarschaft zum Bürgerkriegsland Libyen lässt Investoren zögern, auch Touristen bleiben aus.
Die Wirtschaft stagniert. Die Nachbarschaft zum Bürgerkriegsland Libyen lässt Investoren zögern, auch Touristen bleiben aus.

© AFP

Jemen

„Wir werden nicht weichen, bis alle unsere Forderungen erfüllt sind.“ Seit fünf Monaten campiert Tawakkol Karman zusammen mit Zehntausenden auf dem Universitätsplatz in der Hauptstadt Sanaa. Die 32-Jährige ist die Sprecherin der jemenitischen Jugendbewegung. Kilometerlang ziehen sich die Zeltreihen durch die anliegenden Straßen. Ihre Bewohner fordern den Rücktritt von Präsident Ali Abdullah Saleh, der seit 33 Jahren an der Macht ist. Sie verlangen einen Nationalen Übergangsrat aus unbelasteten Persönlichkeiten sowie die komplette Auflösung des Regimes.

Doch die Machthaber wehren sich mit Händen und Füßen. „Wir befinden uns in einer totalen Blockade – militärisch und politisch“, erläuterte Abdel Karim al Eryani, ehemaliger Premierminister des Landes und Berater des Staatschefs, der am 3. Juni bei einem Attentat in seiner Palastmoschee schwer verletzt wurde. Saleh zeigte sich vergangene Woche erstmals im Fernsehen, das Gesicht von Brandverletzungen gedunkelt, Arme und Hände bandagiert. Von Abdankung und Machtverzicht wollte er nichts wissen, stattdessen beschuldigte er die Jugendbewegung, sie hätte „ein falsches Verständnis von Demokratie“.

Und so schlittert der Jemen immer schneller in den Abgrund. Schon jetzt ist das Land das Armenhaus der arabischen Welt, was mit den Staatseinnahmen praktisch komplett von seinen schwindenden Ölreserven abhängt. Momentan kann Sanaa nur noch 30 Prozent seines Bedarfes an Benzin und Diesel einkaufen, die wichtige Ölexportleitung von Marib nach Aden ist durch Sabotage zerstört. Stundenlange Stromsperren plagen die 23 Millionen Bewohner. Die Ernte vertrocknet auf den Feldern, weil den Wasserpumpen der Treibstoff fehlt. Und im Kampf gegen Al-Qaida-Kommandos an der Küste sind die Regierungstruppen seit Wochen in der Defensive.

Mehr als 150 Soldaten sind in den vergangenen Wochen gefallen, die radikalen Gotteskrieger nehmen die Hafenstadt Aden inzwischen von zwei Seiten in die Zange. Auch politisch ist keine Lösung in Sicht.

Die Familie Saleh kontrolliert die wichtigen Elitetruppen und Sondereinheiten, ihre Mitglieder stellen die Legitimität der Jugendproteste komplett in Abrede. Die Oppositionsparteien wiederum können sich nicht mit ihrem Vorschlag einer Übergangsregierung der Nationalen Einheit durchsetzen. Und der dritte wichtige Spieler in Jemens Machtpoker, der zusammen mit seiner Division abtrünnige General Mohsen al Ahmar, hüllt sich in Schweigen.

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Syrien

Die Panzer rollen weiter – diesmal in Richtung Homs und Hama. Seit Tagen wird in den Straßen der beiden Orontes- Städte gekämpft, rattern Maschinengewehre und schleppen Greifkommandos Menschen aus den Häusern. Und trotzdem gingen in Hama an den vergangenen beiden Freitagen mehr als 400 000 Bewohner auf die Straße und forderten den Sturz des Baath-Regimes, die bisher größte revolutionäre Kundgebung im Land seit Beginn der Unruhen im März. Alles war auf den Beinen, es gab Szenen wie auf dem Kairoer Tahrir-Platz.

Baschar al Assad aber denkt nicht daran nachzugeben. Seit vier Monaten halten der Präsident und seine Getreuen bereits dem Ansturm des Volkes stand – mit einer Mischung aus politischen Manövern und militärischer Härte. Verbissen wogt der Machtkampf hin und her, gegen aufmüpfige Städte zieht die Armee mit Panzern und Hubschraubern zu Felde. Noch verfügt der Präsident über genügend Machtmittel, um es weitere Monate mit den Demonstranten aufzunehmen. In der Herrscherclique zeigen sich keine Risse. Die Führungen von Sicherheitsapparat und Militär mit mehr als 400 000 Mann unter Waffen sind intakt. Und so zieht das Regime alle Register, setzt auf Folter und exemplarische Abschreckung, auf Ermüdung und Resignation, um seinem Volk systematisch den Willen zu brechen. Mindestens 1400 Menschen verloren bisher ihr Leben, 12 000 sitzen nach Massenverhaftungen hinter Gittern.

Präsident Assad kann sich bislang auf die großen Städte Damaskus und Aleppo stützen, deren säkulare Mittelklasse eine islamisch-sunnitische Herrschaft fürchtet. Denn Syrien ist ethnisch und religiös ähnlich bunt gemustert wie sein Nachbar Irak. Die Kurden im Norden fühlen sich seit Jahrzehnten diskriminiert, die Sunniten von der Minderheit der schiitischen Alawiten dominiert, der Haussekte des Assad-Clans. Die Christen wiederum warten ab. Sie halten sich auf vorsichtige Distanz zum Baath-Regime, hoffen aber, dass es die Unruhen durch politische Konzessionen wieder unter Kontrolle bringen kann. Denn die Gläubigen und ihre Bischöfe fürchten, ein Post-Assad-Syrien könnte in den gleichen Abgrund von religiöser Gewalt und Chaos rutschen wie der Post-Saddam-Irak.

Politisch scheint der Konflikt inzwischen unlösbar. Zwar hatte Präsident Assad am Anfang Reformen angeboten, ohne wirklich auf seine ererbte Allmacht zu verzichten. Kein Wunder, dass die Syrer ihrem Augenarzt-Präsidenten sein „Damaskus-Erlebnis“ nicht abnahmen. Die mit seinen drei präsidialen Dekreten inszenierte Umkehr empfanden sie als taktische Finte. Kaum hatte Assad das seit Ewigkeiten geltende Ausnahmerecht außer Kraft gesetzt, wurde das Wüten der Staatssicherheit noch wilder als zuvor. Kaum hatte er das friedliche Demonstrieren offiziell erlaubt, wurde noch brutaler in die Menge geschossen. „Die Wirtschaft steht vor dem Kollaps“, beschwor der bedrängte Staatschef in seiner jüngsten Fernsehrede vor zwei Wochen seine Untertanen und warb für einen „Nationalen Dialog“. 300 Einladungen ließ der Präsident für die Premiere am vergangenen Sonntag verschicken. Von der Opposition jedoch erschien praktisch niemand. Solange die Panzer rollen, werde es keinen Dialog geben, ließen ihre Vertreter ausrichten.

Nach Angriffen eines syrischen Mobs auf die französische und amerikanische Botschaft in Damaskus am Montag sind auch die Beziehungen des Landes zu den USA zerrüttet. Zum ersten Mal stellte mit Außenministerin Hillary Clinton ein führendes Mitglied der US-Regierung daraufhin die Herrschaft Assads öffentlich infrage. Der syrische Präsident habe Legitimität eingebüßt, sagte Clinton am Dienstag nach einem Treffen mit der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton in Washington. Anstatt den Wunsch der Bevölkerung nach Wandel zu respektieren, habe er Unterstützung aus dem Iran akzeptiert, „um das eigene Volk zu unterdrücken“. Präsident Assad sei „nicht unverzichtbar, und wir haben absolut nichts darauf gesetzt, dass er an der Macht bleibt“, fügte Clinton hinzu. „Unser Ziel es ist, dass der Wille des syrischen Volkes für einen demokratischen Wandel Raum bekommt.“ Präsident Barack Obama dagegen hatte Assad zuvor zwar stets zu Reformen aufgerufen, nicht jedoch seinen Rücktritt oder das Ende des Baath-Regimes verlangt. Syriens Führung wies die Äußerungen Clintons als „Aufhetzung“ zurück.

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Tunesien

Um Tunesien ist es ruhig geworden. Exdespot Zine al Abidine Ben Ali wird in Abwesenheit der Prozess gemacht. Auslieferung durch Saudi-Arabien muss der gestürzte Diktator nicht befürchten, der sich inzwischen mit seiner Familie in den 2300 Meter hohen Gebirgsort Abha nahe der jemenitischen Grenze zurückgezogen hat. Derweil ringt seine Heimat um ihren Weg in eine funktionierende Demokratie. Der Wahltermin für die verfassungsgebende Versammlung wurde inzwischen von Juli auf Oktober verschoben, ähnlich wie in Ägypten macht sich auch in Tunesien die Einsicht breit, dass die vielen neuen politischen Kräfte mehr Zeit brauchen, um ihr Werben um die Stimmen der Wähler vorzubereiten. Über 50 Parteien sind in der Zwischenzeit entstanden, auch die seit zwei Jahrzehnten aus dem Land verbannten Muslimbrüder sind wieder im politischen Spektrum präsent. Unklar ist, wie stark sie beim ersten demokratischen Kräftemessen im Herbst abschneiden werden.

Denn die Perspektivlosigkeit gerade unter dem Nachwuchs ist geblieben, die revolutionäre Euphorie einem mittelschweren Kater gewichen. Eine Selbstmordwelle junger Leute beunruhigt das Land. Tausende wollen nur noch weg. Jede Nacht machen sie sich in klapprigen Booten auf zur lebensgefährlichen Überfahrt in Richtung Europa. Denn Tunesiens Wirtschaft stagniert, die direkte Nachbarschaft zum Bürgerkriegsland Libyen lässt viele ausländische Investoren zögern. Die Einnahmen aus dem Tourismus, der sieben Prozent zum Bruttosozialprodukt beisteuert und 400 000 Menschen beschäftigt, sind seit Januar offiziell um 50 Prozent gefallen. Für die zweite Jahreshälfte sieht es ähnlich düster aus.

Mehr noch: Allein in diesem Jahr werden 80 000 neue Universitätsabsolventen auf den Arbeitsmarkt entlassen, für die es in der heimischen Wirtschaft keine Stellen gibt. Wie die meisten anderen arabischen Staaten auch, legte Tunesiens alte Führung viel zu hohen Wert auf akademische Bildung. Dagegen fehlte es an Angeboten für eine solide handwerkliche Qualifizierung. Handwerk gilt als minderwertige Tätigkeit, auch wenn gute Elektriker, Installateure oder Schreiner an allen Ecken und Enden fehlen.

Und trotz aller Schwierigkeiten – Tunesien fühlt sich als oberster Treuhänder des Arabischen Frühlings, schließlich brachte der Sturz von Diktator Ben Ali vor sechs Monaten im ganzen Nahen Osten das Aufbegehren der Völker ins Rollen. Oder wie es Beji Caid-Essebi, der Interimsregierungschef des Landes, formulierte: „Wenn der demokratische Wandel in Tunesien scheitert, dann gibt es auch überall sonst keine Hoffnung mehr.“

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Marokko

Politische Reformen im Einvernehmen, eine Verfassungsänderung ohne Volksaufstand: In Marokko scheint nach dem Referendum am 1. Juli vorerst Ruhe eingekehrt. 98 Prozent der abgegebenen Stimmen befürworteten die Verfassungsänderungen, mit denen König Mohammed VI. ein Stück seiner absoluten Macht abtrat. „Dies ist eine Verfassung für den Übergang zu einer Demokratie. Dies aber ist noch nicht der Start in ein demokratisches Zeitalter“, urteilte der bekannte Politologe Mohamed Darif von der König Hassan Universität in Casablanca.

Die große Mehrheit der Bevölkerung jedenfalls ist zunächst einmal zufrieden. Der 47-jährige Monarch, der seit 1999 auf dem Thron sitzt, ist bei ihnen beliebt, seine Untertanen nehmen ihm den Reformwillen ab.

Das Parlament wird in Marokkos neuer politischer Ordnung aufgewertet. Nicht mehr der König, sondern die Volksvertreter wählen künftig den Premierminister. Dessen Macht wird gestärkt, er bestimmt jetzt die Mitglieder seines Kabinetts, ernennt die Botschafter und Provinzgouverneure. Der König allerdings muss allen Personalvorschlägen zustimmen, was ihm ein Vetorecht garantiert, dessen politische Wirkung noch schwer einzuschätzen ist. Gleichzeitig soll die veränderte Verfassung künftig die Unabhängigkeit der Justiz garantieren, während Mohammed VI. weiterhin der Chef des Militärs, der Sicherheitskräfte sowie die oberste religiöse Autorität des Königreiches bleibt.

Kritikern allerdings gehen die Reformschritte deswegen nicht weit genug, vor allem gegen die Selbstbedienungsmentalität der Mächtigen sowie die weit verbreitete Korruption im Lande sei bisher nichts geschehen, bemängeln sie. Auch müsse mehr unternommen werden gegen soziale Ungerechtigkeit und die bittere Armut vieler Familien. Der Monarch hätte die Verfassungsreform viel glaubwürdiger gestaltet, wenn sie eine richtige Trennung zwischen Macht und Geld eingeführt hätte, meint Ali Anozla, Chefredakteur des Onlineportals Lakome.com. „Der König vereint nicht nur politische, militärische und religiöse Macht, er kontrolliert auch die wirtschaftlichen und finanziellen Entscheidungen.“ Insofern schreibt die geänderte Verfassung in den Augen von Anzola die seit Langem herrschenden „Strukturen des politischen Despotismus“ weiter fort. „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Marokkaner kapieren, dass sich durch die neue Verfassung nicht viel geändert hat.“

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