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Die Crewmitglieder des deutschen Seenotrettungsschiffs "Lifeline" sind derzeit zum Zusehen verdammt.

© Annette Schneider-Solis/dpa

Mittelmeer: Die fatalen Gerüchte über private Seenotretter

NGOs wird vorgeworfen, die Machenschaften der Schlepper zu fördern und ihnen gezielt Informationen zu senden. Diese falschen Gerüchte stehen einer solidarischen Lösung im Weg. Ein Gastbeitrag.

Während ich in der Schlange vor dem Gepäckband stehe, spüre ich einen Kloß im Hals. Es fällt mir schwer, mich an den Gedanken zu gewöhnen, in wenigen Stunden wieder zu Hause in München zu sein, wo die nächsten Termine auf mich warten. Ich will nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.

Auf Malta hatte ich vier Tage mit Crewmitgliedern der Seenotrettungsorganisationen Sea Watch, Sea Eye, Mission Lifeline und Jugend Rettet verbracht. Die meisten von ihnen sind Krankenpfleger, Ärztinnen, Maschinistinnen oder Sanitäter, die ihren Sommerurlaub damit verbringen wollten, ehrenamtlich Menschen aus Seenot zu retten. Doch sie dürfen nicht. Seit drei Wochen werden sie daran gehindert, mit ihren Schiffen auszulaufen.
„Bei jedem Foto einer geborgenen Wasserleiche, frage ich mich, ob diese Person noch leben würde, wenn wir auf dem Wasser wären und nicht hier festsitzen würden“ erzählt mir ein Crewmitglied von der Sea Eye am ersten Abend meiner Reise.

Die meisten Helfer auf der Insel haben schon auf vergangenen Missionen Menschen vor dem Ertrinken gerettet und wissen, wie es aussieht, wenn die Hilfe zu spät kommt. Zwischen Leben und Tod liegen oft nur wenige Minuten. Vor der libyschen Küste retten auch Frontex, sowie Handels- und Kriegsschiffe. Doch jedes Schiff, das in der Seenotrettungszone fehlt, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Rettung für Geflüchtete auf kaum seetüchtigen kleinen Booten zu spät kommt.

Die Unerträglichkeit der Vorstellung, auf einem abfahrtbereiten Schiff mit einer abfahrtbereiten Crew im Hafen festzusitzen, während Menschen im Meer ertrinken, ist omnipräsent in den Gesprächen. Viele der Seenotretter sind trotzdem auf den Schiffen geblieben. Die meisten versuchen, sich mit Reparaturarbeiten am Schiff und der Auseinandersetzung mit der politischen und rechtlichen Situation beschäftigt zu halten. Die Wut und Enttäuschung, mit der die Aktivistinnen auf die Politik der Europäischen Staaten blicken, ist zu jeder Zeit in jedem Gespräch spürbar. Bei manchen überwiegt noch Hoffnung, bei anderen zynische Abgeklärtheit.

Ständig sind die privaten Seenotrettungsorganisationen dem Vorwurf ausgesetzt, sie würden mit Schleppern zusammenarbeiten und beispielsweise Schlepperboote nach Rettungen an Schlepper zurückgeben und sich dadurch finanzieren. Während es aber keinerlei Beweise für eine Kooperation der NGOs mit den Schleppern gibt, haben Journalistinnen und Crewmitglieder der Seenotrettungsorganisationen dokumentiert, dass die libysche Küstenwache Motoren von Schlepperbooten nach einer Rettung abgeschraubt und wieder mit nach Libyen genommen hat. Was in dem korrupten Milizenstaat damit passiert und wie genau die Motoren wieder auf den Schlepperbooten landen, bleibt Gegenstand von Spekulationen. Fest steht aber, dass die Beschuldigungen der NGOs sich auf Erkenntnisse stützen, die andere Akteure belasten als die NGOs.

Nicht NGOs treiben Flüchtende aufs Mittelmeer, sondern Perspektivlosigkeit

Hartnäckig hält sich auch das Gerücht, die NGOs würden den Schleppern ihre Position zukommen lassen, damit diese gezielt seeuntüchtige Boote losschickten, und die Flüchtlinge dann von den NGOs an Bord genommen würden. Natürlich ist es leider wahr, dass die Schlepper die Not der Menschen ausnutzen, viel Geld dafür kassieren, sie auf halben Wracks oder überfüllten Schlauchbooten loszuschicken und dabei deren Leben aufs Spiel setzen. Dabei kann jeder Schlepper, genau wie jedes internetfähige Endgerät, die Position jeglicher Schiffe via AIS, also den Schiffsdaten aus einem Ortungsfunksystem auf der Seite marinetraffic.com nachvollziehen.

Die Schiffe der NGOs sind dazu verpflichtet, ihr Ortungssystem stets eingeschaltet zu haben. Und da jedes Schiff völkerrechtlich dazu verpflichtet ist, Menschen aus Seenot zu retten, kann natürlich jedes Schiff, das sich auf der Karte von marinetraffic.com vor der libyschen Küste befindet, ein Argument für die Schlepper sein. Und das gilt für Handelsschiffe, genauso wie für Kriegsschiffe, FRONTEX-Schiffe, Öltanker und privat betriebene Yachten und Sportboote. Dass es einen Zusammenhang zwischen der Anzahl der auf Booten fliehenden Menschen und der Anzahl der NGO-Schiffe gibt, dass NGO Schiffe also ein „Pull Factor“ seien, wurde bereits mehrfach widerlegt, zum Beispiel von einer Studie der Oxford Universität.

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Nicht die NGOs treiben Flüchtende aufs Mittelmeer, sondern Perspektivlosigkeit, Folter, Hunger, Sklaverei und Vergewaltigungen, die 90 Prozent der flüchtenden Frauen in Libyen erleben mussten. Solange es keine legalen, sicheren Fluchtmöglichkeiten gibt, werden sich Menschen auf illegale und tödliche Fluchtwege begeben. Wenn wir das Sterben im Mittelmeer wirklich beenden wollen, müssen wir neben einer kohärenten Politik der globalen Gerechtigkeit legale Fluchtmöglichkeiten schaffen und eine gemeinsame europäische Seenotrettung und eine solidarische Verteilung von Flüchtlinge innerhalb der EU verwirklichen.

In meinem Gespräch mit Vertretern der maltesischen Regierung gab die Sprecherin des Premierministers zu, dass sie selbst die Bilder von ertrunkenen Säuglingen nicht aus dem Kopf bekäme. Sie - selbst junge Mutter - sagte, Malta sei willens, die Häfen wieder zu öffnen, sofern sich andere europäische Staaten an der Aufnahme der Geretteten beteiligen. Offenbar steht die Regierung auf Malta unter starkem innenpolitischen Druck. Der soziale Frieden sei in einem kleinen Inselstaat, der nunmal nichts an seiner geografischen Lage ändern könne, eben schnell in Gefahr, erklärte uns die Migrationsverantwortliche der maltesischen Regierung.

Es braucht also ein glasklares Zeichen an die südeuropäischen Staaten, dass sie vom Rest Europas in der Flüchtlingspolitik nicht allein gelassen werden. Und wenn das einstimmig in der EU nicht funktioniert, dann müssen eben einzelne Länder und Kommunen vorangehen und ihre Aufnahmebereitschaft erklären. Diese solidarischen Kommunen sollten von der EU direkt mit europäischen Mitteln unterstützt werden. Damit würde man solidarische Kommunen stärken und könnte sogar die Mittelkontrolle von nationalen Regierungen kürzen, die sich aus der Verantwortung stehlen - ohne dass das Geld vor Ort fehlt.

Da, wo egoistische Kleinstaaterei Wege zu einer vernünftigen Politik versperrt, müssen eben neue Wege beschritten werden. Schließlich geht es um nicht weniger als um Leben oder Tod.

Jamila Schäfer ist stellvertretende Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen.

Jamila Schäfer

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