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Politik: Seit vor drei Wochen die Falun-Gong-Sekte in China verboten wurde, hält eine riesige Medien-Kampagne das Land in Atem

Die Stimme am Telefon klingt nervös. "Sie müssen die Wahrheit über uns hören.

Die Stimme am Telefon klingt nervös. "Sie müssen die Wahrheit über uns hören. Die Regierung lügt", flüstert der Mann. Seinen Namen sagt er nicht, sondern nur, dass er in Peking lebt und Anhänger des Falun-Gong-Kults ist. Können wir uns treffen? "Zu gefährlich. Ich werde überwacht, meinen Job habe ich schon verloren", sagt er. "Aber wir müssen uns unterhalten. Wir wollen nur gute Menschen sein. Das ist alles, was unser Meister will." Hastig entschuldigt er sich, die Leitung sei zu unsicher. "Warten Sie, bis ich mich wieder melde."

Drei Wochen sind seit dem Verbot der Falun-Gong-Sekte vergangen. Eine Kampagne quer durch Universitäten, Schulen, Fabriken und Regierungsstuben hält seitdem das Land in Atem. Täglich berichten die Zeitungen über neue angeblich "hinterhältige Verbrechen" (Jugendzeitung) des Sektenführers Li Hongzhi. Die sonst halbstündigen Abendnachrichten dauern an manchen Tagen zwei Stunden. Zittrige Großmütter werden vor die Kamera gezerrt, um tränenreich ihre "Fehler" einzugestehen. Blutige Bilder von toten Falun-Gong-Anhängern, die sich im Wahn angeblich selbst verstümmelt haben, flimmern über die Fernsehschirme.

Die KP-Führung hat zum Kampf geblasen, zu einer Schlacht, die sie seit der Kulturrevolution nicht mehr geführt hat. Der Gegner: das eigene Volk. Zehntausende wurden in den vergangenen Wochen festgenommen und in Stadien zusammengetrieben. Wer sich nicht öffentlich lossagt, dem droht der Verlust der Arbeit, der Rente und manchmal der Freiheit. Mehr als 700 führende Kult-Anhänger sitzen nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen in Gefängnissen. In diesem Monat sollen die ersten vor Gericht gestellt werden. Der Vorwurf: Anstiftung zum Sturz der Sozialismus.

Ungläubig schüttelt man in China den Kopf. Umsturz der Regierung? Die harmlosen Falun-Gong-Leute, Rentner und alte Frauen, die morgens in den Parks immer die komischen Atemübungen machen? Die sollen plötzlich "Staatsfeinde mit teuflischen Plänen" ("Volkszeitung") sein?

"Die Regierung ist unwissend", sagt der Mann am Telefon, als er am nächsten Tag wieder anruft. "Wenn die Führung nur das Buch des Meisters lesen würde, dann würde sie verstehen." Seine Stimme ist heiser. Dreißig Jahre sei er alt, erzählt der Mann, und bisher habe er ein normales Leben geführt: Wirtschaftsstudium, ein guter Posten bei einer Immobilienfirma, Karriere gemacht im Boom der Wirtschaftsreformen. Doch stets habe er gespürt, dass etwas fehlt. "Je mehr Geld ich verdient habe, desto unglücklicher wurde ich." Vor drei Jahren gab ihm ein Arbeitskollege das Buch des Gründers Li Hongzhi - "Zhuan Falun", die Bibel des Falun Gong. Übersetzt heißt das: "Das Rad des Dharma drehen". Darin habe er etwas gefunden, was er bei der Partei und Regierung vermisst habe - "einen Sinn im Leben". Bald ging er jeden Morgen in den Park, um mit Gleichgesinnten die vom traditionellen Qi Gong abgeleiteten fünf Atemübungen zu trainieren. Er heiratete eine Falun-Gong-Anhängerin. "Meister Li bringt uns bei, ein anständiges Leben zu führen, verstehen Sie?"

Doch ganz so arglos ist das Treiben des Meister Li nicht. Von seinem Exil in New York, wo er seit zwei Jahren lebt, hat Li Hongzhi eine weltweite Massenorganisation ausgebaut. 70 Millionen Anhänger habe er in China, behauptet der etwas füllige 47-Jährige. An mehr als 23 000 Übungsorten und Parks sollen sich die Anhänger vor dem Verbot täglich getroffen haben. Über Email und Telefon hatte Li Hongzhi die hierarchisch organisierte Gemeinde angeblich fest im Griff.

Meister Li verwahrt sich dagegen. Er habe "keinerlei Interesse an Politik". Falun Gong sei lockerer organisiert "als ein Sportverein", sagt er. Dennoch ließ er im vergangenen Jahr seine Leute mehr als ein halbes Dutzend Rundfunkstationen und Zeitungen besetzen, die kritische Artikel über die Sekte drucken wollten. Und am 25. April schickte die Falun-Gong-Führung in Peking mehr als 10 000 Anhänger auf die Straße, um vor dem Regierungssitz Zhongnanhai zu protestieren. Der Aufmarsch - der größte seit den Studentendemonstrationen von 1989 - überraschte nicht nur das Ausland.

Chinas Mächtige sahen sich plötzlich von Sektenanhängern eingekesselt. Der Geheimdienst war ratlos, und auch sonst wusste niemand, mit wem man es eigentlich zu tun hat. Erst als die übertölpelte KP-Führung einwilligte, Vertreter des Kults zu empfangen, lösten diese die Blockade auf. Noch in derselben Nacht schickte Staatschef Jiang Zemin einen wütenden Brief an das Politbüro: "Wie kann es sein, dass der Marxismus nicht mit einer Sekte fertig wird?" Die Antwort wird Chinas Kommunisten noch eine Weile Kopfzerbrechen bereiten. Seit Anfang der neunziger Jahre haben sich unzählige Kultvereinigungen, Pseudoreligionen und Schamanenrituale im offiziell atheistischen China ausgebreitet. In den Dörfern sitzen wieder Wahrsager an den Straßen, die einem für ein paar Münzen die Zukunft vorgaukeln. In der Provinz Gansu stießen die Behörden vor kurzem auf einen "Körperhändler", der Leichen junger Frauen an reiche Familien verkauft hatte. Die Käufer hatten die Leichen zusammen mit ihren toten Söhnen beerdigt - damit diese sich im Himmel weniger einsam fühlen.

"Li Hongzhi ist nur die Spitze des Eisberges", sagt der bekannte Sektengegner Si Manan. Mehr als 100 Millionen Chinesen, schätzt Peking, bekennen sich zu Kultbewegungen. Fachleute sprechen von mehr als 300 organisierten Sekten. Die Lehren der selbst ernannten Heilsbringer sind meist abstrus: Falun-Gong-Anhänger glauben, dass sie mit Hilfe "kosmischer Energie" mit dem Überirdischen kommunizieren und durch Wände sehen können. Im Vertrauen auf ihre spirituellen Kräfte verweigern viele medizinische Behandlung. Bei den diesjährigen Sommerüberschwemmungen am Jangtse sollen sich mehrere Dörfer gegen die Unterstützung durch Behörden und Armee gewehrt haben. Die Bauern vertrauten - vergeblich - auf eine Rettung durch Falun Gong.

Der Popularität der Sekten tun solche Rückschläge keinen Abbruch. Denn die spirituellen Bewegungen füllen eine geistige Lücke in China. Die Ideale von Marx und Mao sind zu kaum mehr als Worthülsen verkommen. Statt Gleichheit und Brüderlichkeit regiert die Ellenbogengesellschaft. Schüler müssen plötzlich um Universitätsplätze wettstreiten. Staatsbetriebe werden über Nacht geschlossen, Behörden zu Profit-Centern umgewandelt. Für Millionen Chinesen gehen die Veränderungen einfach zu schnell.

"Wenn die Moral der menschlichen Gesellschaft kurz vor dem Kollaps steht, gibt das Universum der Menschheit eine letzte Chance", schreibt Li Hongzhi. Diese Chance wollten offensichtlich auch Akademiker, Parteikader und andere Stützen des Systems nutzen. "An meiner früheren Universität wimmelte es nur so von Falun-Gong-Leuten, auch einige Professoren waren darunter", erzählt die Pekinger Malerin Li Mei. "Natürlich ist Falun Gong eine Spinnerei", sagt die 26-Jährige. Aber, fragt sie, hätte die Regierung nicht "einen anderen Weg als den Polizeistaat" finden können, um etwas gegen den Kult zu unternehmen?

"Wir können uns treffen, jetzt gleich", sagt der Mann am Telefon, als er sich am Tag darauf noch einmal meldet. Eine Stunde später sitzen wir auf einer Parkbank in der Nähe des Lama-Tempels. Er wirkt angespannt. "Ich muss mir eine neue Arbeit suchen", erzählt er. Im April habe er bei der Demonstration vor dem Regierungssitz teilgenommen und sei von der Polizei registriert worden. "Aber das ist alles kein Problem, wir sind ja gute Menschen, und was kann die Regierung gegen gute Menschen haben?" Eine Weile sitzt er stumm da und überlegt. "Die Regierung sagt, Sozialismus und Falun Gong passen nicht zusammen", sagt er, "aber das stimmt nicht." Der Meister sei doch so etwas Ähnliches wie der Große Vorsitzende Mao: "Der Große Vorsitzende des Himmelreichs."

Harald Maass

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