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Serbien: „Die Krise ist Alltag“

Der Belgrader Schriftsteller Vladimir Arsenijević über gesinnungsflexible serbische Politiker, den späten Zug nach Europa und eine verlorene Generation.

Herr Arsenijević, die EU hat Beitrittsgespräche mit Serbien aufgenommen. Erreicht haben das nicht die Demokraten unter Boris Tadic, sondern einst sehr anti-europäische und nationalistisch eingestellte Politiker wie Nikolić, Vučić und Dačić. Wie erklären Sie sich dieses Paradox?

Das ist das Langzeit-Paradox der serbischen Politik: Sobald die demokratischeren Parteien an die Macht kommen, geben sie sich sehr nationalistisch, während die nationalistischen Parteien liberaler werden und versuchen, eine engere Bindung an die europäischen Partner zu erreichen.

Ihre Motive dürften opportunistischer Natur sein.
Natürlich wäre es naiv zu glauben, dass sie sich grundlegend verändert haben, aber es ist gut, dass sie ihre Anzüge gewechselt haben. Die Substanz ist gleich, aber die Form hat sich geändert. Wenn sie mitspielen und den Anforderungen der Ära gerecht werden, lässt sie das wie moderne Politiker aussehen. Es hat mich überrascht, dass die Politiker der Fortschrittspartei, die früheren Radikalen, die teilweise während der Kriege Regierungsämter innehatten, zu dieser Art von Veränderung in der Lage sind. Auch Miloševićs Sozialistische Partei hat eine Transformation durchgemacht. Dabei handelt es sich allerdings um eine äußerst manipulative und kontrollierte Angelegenheit. Diese Leute arbeiten mit einer Art bipolarem Narrativ: Die eine Seite richtet sich an die Partner im Westen, die andere an die Leute zu Hause.

Der Beitrittsprozess wird lange dauern, mindestens fünf bis zehn Jahre. Können Sie Ihre Landsleute verstehen, die sagen: Bis dahin ist es zu spät, die EU ist zudem selber in der Krise?
Wir sind an lange, scheinbar nie enden wollende Prozesse gewöhnt. Außerdem leben wir ohnehin in einer Dauerkrise. Als die Krise in der EU begann, sagte man hier: Welche Krise? Wann hat die letzte denn aufgehört? Fortschritt ist für die Menschen auf dem Balkan ein sehr relativer Begriff. Dennoch gibt es jetzt einen Unterschied, denn die gegenwärtigen Machthaber versuchen tatsächlich, sich zu verändern und den späten Zug nach Europa noch zu erwischen. Auf die Party zu kommen, wenn sie schon vorbei ist, sind wir ebenfalls gewöhnt. Aber diese Party ist immer noch besser als die, die wir 20 Jahre lang alleine geschmissen haben und die uns nichts Gutes gebracht hat.

Sie schauen also hoffnungsvoll in die Zukunft?
Hoffnung ist ein sehr ambitioniertes Wort. Es ist eher Optimismus, denn es hat sich gezeigt, dass in Serbien alle Parteien und Politiker leicht austauschbar sind. Alle großen Parteien haben in den vergangenen 15 bis 20 Jahren zu irgendeinem Zeitpunkt einmal die Macht gehabt. Ich glaube, es gibt den Wählern ein gutes Gefühl, dass die Politiker sich nicht in Sicherheit wiegen können und hart arbeiten müssen, um ihren Platz zu behaupten.

Kürzlich fand der erste Gay Pride in Belgrad seit den Ausschreitungen von 2010 statt. Es wurde als Zugeständnis an Brüssel gesehen und von Ministerpräsident Vucic nur halbherzig unterstützt, aber immerhin wurde die Parade durchgeführt.
Ja, der Gay Pride hat stattgefunden. Aber für mich war es ein sehr deprimierender Tag. Man fühlte sich wie in einer okkupierten Stadt. Es waren vielleicht 200 queere Leute und ihre Unterstützer da, aber Tausende von Polizeikräften in Robocop-artigen Kampfmonturen. Und dahinter die Masse der wütenden Chauvinisten aus ultrarechten Gruppierungen. Es waren in diesem Jahr zwar ein bisschen weniger von ihnen da, aber es handelt sich hier um eine ausdifferenzierte Szene von faschistischen Gruppen. Sie heißen Obraz, 1389 oder Naši, ihre Mitglieder sind meist sehr junge, zornige, gewalttätige und nationalistische Männer, die ungebildet und kulturell unterentwickelt sind. Sie haben einen großen Einfluss auf die Atmosphäre in Serbien.

Klingt beängstigend.
Politik, Medien, Kirche und das Erziehungssystem arbeiten zusammen an einem Weltbild, das von Antiintellektualismus geprägt ist, und von tiefem Zynismus gegenüber allem, was auch nur halbwegs anspruchsvoll daherkommt. Das alles spiegelt sich in der Jugend wider, etwa in der reduzierten Sprache, die sie benutzt und die bei manchen eher einem Bellen gleicht. Außerdem existiert keine ausdifferenzierte Jugendkultur mehr wie früher, als es noch Punks, Hippies, Skater und viele weitere Gruppen gab. Jetzt ist als einzige Subkultur für diese jungen Männer die Hooliganszene übrig geblieben und bei den Frauen die sogenannten Sponzoruše (etwa: die Gesponserten). Das sind junge Frauen, die Kontakt zu deutlich älteren Geschäftsmännern suchen, um materielle Vorteile gegen Sex zu tauschen. Das ist für mich das deprimierendste Resultat der neunziger Jahre.

Eine Art verlorene Generation?
Ja, es geht um diejenigen, die rund um das Jahr 1990 geboren wurden. Hier fand ein großer Bruch statt. Die Kinder wuchsen in einer kriegerischen, extrem aggressiven sozialen Atmosphäre auf. Selbst wenn ihre Eltern liberal waren, hörten sie von Freunden, in der Schule, von den Medien und der Kirche immer nur das Gegenteil: Schwule sind krank, Kosovo-Albaner sind Monster, Kroaten sind dies und Bosnier das. Da anderer Meinung zu sein, ist schwer, der gesellschaftliche Druck ist einfach zu groß. Deshalb ähnelt diese Generation mehr der ihrer Großeltern als der ihrer Eltern. Jemand hat dazu einmal sehr weise angemerkt: Erst unsere Enkel werden tatsächlich unsere Kinder sein.

Das Gespräch führte Nadine Lange.

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