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Rafal Dutkiewicz hat Breslau zu einer offenen, europäischen Metropole gemacht.

© Monika Skolimowska/dpa

Sharing Heritage - Europäisches Kulturerbejahr 2018: „Europa, nimm eine Dusche!“

Breslaus Präsident Rafal Dutkiewicz über die europäische Identität seiner Stadt und die Wehrhaftigkeit von Politik.

Der in Breslau geborene amerikanische Historiker deutsch-jüdischer Herkunft Fritz Stern hatte in seinem Buch „Fünf Deutschland und ein Leben“ den schönen Satz geschrieben: „So schaute ich etwa von Ferne zu, als Breslau in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine neue, noble Bedeutung gewann: Es wurde zu einer Hochburg der Solidarnosc, jener polnischen Bewegung, die zur Selbstbefreiung Osteuropas und zum wiedervereinigten Deutschland (meinem fünften) führte.“

Die Dekade der Solidarnosc-Bewegung, deren Bedeutung Fritz Stern so treffend zusammenfasste, war die Zeit, in der Breslau nach einem langen Findungsprozess seine Identität endlich wiedererlangt hat. Als eine souveräne, polnische Stadt, offen für ihre komplexe multikulturelle Vergangenheit – und ihre europäische Zukunft.

Das Wort „Souveränität“ spielt dabei eine sehr wichtige Rolle. Viele Jahre herrschte in Breslau eine große Unsicherheit über die eigene staatliche Zugehörigkeit. Erst in den 1980er Jahren, so scheint es mir, hatten wir Breslauer zum ersten Mal das Gefühl, hier wirklich zu Hause zu sein. Souverän – und gerade deshalb auch bereit, anderen offen entgegenzutreten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Breslau ein hundertprozentiger Austausch der Bevölkerung vollzogen. Das kann man nicht oft genug betonen: eine komplette „ethnische Säuberung“ fand statt. Eine Million Deutsche wurden aus der Stadt vertrieben, um – gemäß der Vereinbarungen von Jalta und Potsdam – Platz für die Neubürger aus dem ehemaligen Ostpolen zu schaffen, die ebenfalls umgesiedelt und vertrieben wurden.

„Wir vergeben und bitten um Vergebung“

Breslau wurde im Krieg zu 70 Prozent zerstört. Heftige und überflüssige Kämpfe kurz vor dem Kriegsende haben beinahe die gesamte Stadt in ein Trümmerfeld verwandelt. Heute verbindet die Architektur des wiederaufgebauten Wroclaw vier Elemente: das rekonstruierte historische Gewebe, neue öffentliche Räume, mehr oder weniger gelungene Bauten des polnischen Realsozialismus und herausragende Objekte, die in letzter Zeit entstanden sind, wie etwa das neue Städtische Stadion oder der Flughafen. Dieser Architektur-Mix spiegelt die bewegte Geschichte und das besondere kulturelle Erbe der Stadt wider.

Ein wichtiger Meilenstein im Nachkriegs-Breslau war das Jahr 1965 und der berühmte Hirtenbrief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder. Der prägende Satz: „Wir vergeben und bitten um Vergebung“ ist das Fundament der deutsch-polnischen Versöhnung gewesen. Gefragt nach seinem Ursprung lieferte der Breslauer Bischof Kominek, Autor des Briefes, folgende Antwort: „Die Art und Weise des Sprechens kann nicht nationalistisch, sondern muss europäisch im tiefsten Sinne dieses Wortes sein. Europa ist die Zukunft – Nationalismen sind von gestern. (...) Eine Vertiefung der Diskussion darüber, eine föderative Lösung für alle Völker Europas zu schaffen, unter anderem durch einen allmählichen Verzicht auf die nationale Souveränität in Fragen der Sicherheit, Wirtschaft und Außenpolitik ist sehr wichtig“.

Berlin war viele Jahre ein Teil des Erzbistums Breslau. Unweit des Breslauer Doms liegt das Erzdiözesanmuseum. Dort können Besucher Spuren nach Berlin entdecken oder ins Buch von Heinrichau schauen, wo man den ersten literaturhistorisch nachgewiesenen polnischen Satz lesen kann. Auch Kurt Tucholsky schrieb später, dass „jeder anständige Berliner aus Breslau kommt“.

Eine braune Welle rollt durch Europa. Was tun?

Für mich ist heute allerdings ein anderes Motto aktuell: Jeder anständige Berliner kommt nach Breslau. Sei es, um in einer der 130 Kirchen über die komplizierte Vergangenheit der Region nachzudenken. Die Kirchen sind insofern wichtig, als dass sie als erste Bauten nach dem Krieg wiedererrichtet wurden. Zwei verdienen eine besondere Erwähnung. In der St. Michaelis Kirche betete Edith Stein, spätere Patronin Europas. Die griechisch-orthodoxe St. Vinzenz-Kirche ist wiederum ein Ort, wo Osten und Westen aufeinandertreffen. Und den neuerdings immer mehr Menschen aufsuchen.

Mehr als 100 000 Ukrainer kamen in den vergangenen Jahren nach Breslau. Wir tun alles, um sie zu integrieren. Neben Bildung ist dabei ein multikultureller Dialog entscheidend. Das ist das neue, wunderbare Gesicht von Wroclaw: 160 000 Einwohner kommen aus 124 Ländern. Die einstige ethnisch homogene Stadt verwandelt sich vor unseren Augen in eine internationale Metropole.

Klar gibt es auch beschämende, rassistisch motivierte Zwischenfälle. 2015 haben Nationalisten auf dem Marktplatz eine Judenpuppe verbrannt. An den Wahlurnen finden sie kaum Anhänger. Im Vergleich mit anderen polnischen Großstädten haben Rechtsradikale in Breslau die niedrigsten Werte.

Politik ist die Fähigkeit, Möglichkeiten zu schaffen. Dazu müssen Politiker Visionen liefern. Breslau ist Beispiel einer solchen Vision. Seine Identität ist eine zutiefst europäische – lokal und zugleich universell. Nun wird sie bedroht. Eine braune Welle rollt durch Europa. Was tun? Die Nationalismen sind wie ein fieser Schweißgeruch. Wer hart arbeitet, muss ihn abwaschen. Deshalb rufe ich aus Breslau: Europa, nimm eine Dusche!

Aus dem Polnischen übersetzt von Aleksandra Lebedowicz.

Rafal Dutkiewicz

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