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Sicherheitspolitik: Schweden schimpfen über "Lex Orwell"

Sicherheit oder Freiheit? Trotz massiver Proteste hält die Stockholmer Regierung an einem sehr weit gehenden Abhörgesetz fest.

Die Gegner nennen es „Lex Orwell“. Jenes Gesetz, das die liberalkonservative Vierparteienregierung in Stockholm im Juni dieses Jahres beschlossen hat und das es den schwedischen Sicherheitsbehörden ermöglicht, den kompletten E-Mail- und sonstigen Internet-, SMS-, Fax- und Telefonverkehr in das und aus dem Ausland zu durchleuchten. Mit ihm ist in Schweden der Zugriff auf die Kommunikation, die technisch eine Landesgrenze überquert, permanent möglich. Nicht einmal ein Straftatverdacht auf einzelne Personen oder eine richterliche Genehmigung ist nötig. Und die Daten können zehn Jahre gespeichert werden.

Das Gesetz liegt überwachungstechnisch im europäischen Vergleich weit an der Spitze. Warum gerade jetzt diese sicherheitspolitische Verschärfung durchgesetzt wurde, erklärt sich nicht allein dadurch, dass erstmals eine bürgerliche Parlamentsmehrheit im traditionell sozialdemokratischen Schweden dominiert. Erklärungsbedarf haben selbst Vertreter der Sicherheitsbehörden. „Der Ministerpräsident und der Verteidigungsminister waren insgesamt sehr schweigsam“, sagt Ingvar Åkesson, Chef der Abhörbehörde FRA (Försvarets Radioanstalt). Auch wenn er die öffentliche Kritik in einem Interview mit der Zeitung „Svenska Dagbladet“ für übertrieben hält, wirft er der Regierung vor, sie habe nicht erklärt, warum man ein solches Gesetz braucht.

Nach den Anschlägen auf das World Trade Center am 11. September 2001 und der folgenden Diskussion um mehr Schutz vor Terror hatten sich die damalige sozialdemokratische Regierung wie auch die Opposition passiv verhalten. Das neutrale und zudem bevölkerungsmäßig kleine Land mit neun Millionen Einwohnern sah sich keiner großen Gefahr durch Terroranschläge ausgesetzt.

Schweden folgte dann nur den Mindestanforderungen neuer internationaler Abkommen gegen den Terror, verschärfte die Flughafenkontrollen nach den neuen EU-Richtlinien, erhöhte das Budget der Sicherheitsbehörden sowie die geheimdienstliche und polizeiliche Kooperation mit dem Ausland. Doch dann kam das Gesetz zur Überwachung der Telekommunikation.

Konfrontiert mit der öffentlichen Kritik an den Überwachungsplänen, beschwichtigte der seit 2006 regierende Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt: Die Kontrollen konzentrierten sich doch auf die Kommunikation mit dem Ausland. Zudem gebe es gar keine Kapazitäten, um alle Bürger zu beschatten. Reinfeldt gab dann aber ein wenig nach. Das Gesetz sieht jetzt vor, dass die Datenschutzbehörde ihren Kontrollauftrag ausweitet. Zusätzlich soll ein parlamentarisches Komitee die Bespitzelung beaufsichtigen. „Ein schwacher Trost“, kontern die Gegner. Obwohl das Gesetz nur für Auslandsverbindungen gilt, machen Experten deutlich, dass die Mehrheit aller Internetverbindungen und E-Mail-Kontakte in Schweden über ausländische Leitungen geht, so dass Sicherheitsbehörden die Möglichkeit hätten, nahezu den gesamten innerschwedischen E-Mail- und Internetverkehr einsehen zu können.

Die Protestwelle ebbt nicht ab. Dass mit der Überwachung der Telekommunikation mehr Terroristen gefasst werden, glaubt kaum jemand. Zur linken Opposition und den Massenmedien gesellen sich in der Ablehnungsfront Mitglieder der Regierungsparteien, IT-Unternehmen und selbst Mitglieder der Sicherheitspolizei Säpo (Säkerhetspolis) und des Militärs.

Auch die Chefs der größten Telekommunikationsfirmen des Landes protestierten in einem offenen Brief an die Regierung. Sie warnten, ausländische Kunden würden sich gegen Schweden und schwedische Unternehmen als Geschäftspartner entscheiden. Der halbstaatliche Telekommunikationskonzern TeliaSonera soll sogar auf Bitte von finnischen Geschäftskunden Server außer Landes gebracht haben. Auch beim deutschen Bundesdatenschutzbeauftragten wird das schwedische Gesetz kritisiert. Denn Schweden schließt nicht aus, erfasste Daten mit anderen Ländern auszutauschen. Außerdem gehen 80 Prozent aller Internetverbindungen zwischen Russland und Westeuropa, einschließlich Deutschlands, über schwedische Leitungen.

André Anwar

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