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Liebe in den Zeiten der Angst. Alles ist gut geworden – aber noch immer will Abdul seine Gesicht nicht auf dem Foto zeigen. Foto: Doris Spiekermann-Klaas

© doris spiekermann-klaas TSP

Politik: „Sie dürfen sich jetzt küssen“

Sie liebten sich und lebten doch ständig in Angst. Weil er illegal in Deutschland war und die Abschiebung drohte. Die Geschichte von zwei Menschen, die an ihrem Glück einfach nicht zweifeln wollten.

Abdul ist dünn geworden, der Ring sitzt zu locker. Una lacht und schiebt ihn ein bisschen höher. Dann dürfen die beiden sich küssen. Sie sind jetzt Mann und Frau, lachen, weinen, es fliegen Reis und Rosen. Die Familie fotografiert. Abdul und Una, er im schwarzen Anzug, sie im beigen Kleid, sind ein glückliches junges Paar aus Berlin. Doch die ganze Trauung über haben sie sich aneinander festgehalten, als könnte sie auch hier noch, im Standesamt von Ribnitz-Damgarten bei Rostock, jemand trennen wollen. Die Silberringe hat Una alleine ausgesucht. Anprobe für Abdul war vor drei Wochen in Abschiebehaft.

Im Gefängnis haben sie ihm erzählt, es könne jeden Tag passieren. Dass die Zellentür aufgeht und sie ihn ins Flugzeug Richtung Türkei setzen. In ein Land zurückschicken, an das der 28-jährige Kurde sich kaum erinnern kann, er ist in Deutschland aufgewachsen. Sie sagten, er solle sich damit abfinden, dass er nicht mehr zurückdürfe in seine Berliner Wohnung. Una hat ihn in diesen Tagen eine halbe Stunde besuchen dürfen mit den Ringen. Sie mussten sich gegenübersitzen und haben so geweint, dass der Aufsichtsbeamte es nicht ausgehalten hat. Da durften sie sich kurz umarmen.

Jetzt, da die kleine Hochzeitsgesellschaft in einem Ausflugslokal am Ostseestrand Fisch mit Bratkartoffeln bestellt und Una die hohen Absätze gegen Turnschuhe ausgetauscht hat, ist die Angst der letzten Tage, Wochen und Jahre kaum noch vorstellbar. Abdul schmiert dick Remoulade auf den Fisch, mehr als acht Kilo hat er in der Haft verloren. Er saß in Abschiebehaft, weil er endlich ein richtiges Leben in Deutschland wollte. Eins mit Familie und Arbeit. Weil er Bahn fahren können wollte, zum Arzt gehen, in die Disko, ein Auto kaufen. Jahrelang ging das nicht, er lebte mitten in Berlin und trotzdem durfte es ihn nicht geben. Er war illegal. Erwischt worden ist er nie. Aber um heiraten zu dürfen, hat er sich gestellt.

Als Deutschland ihn das erste Mal loswerden will, ist Abdul 20 Jahre alt. Er lebt mit seiner Familie in der Gemeinde Wabern in Nordhessen. Sein Vater war 1994 aus der Türkei geflohen und hatte die Familie später nachgeholt. Sein Onkel war Mitglied der kurdischen Arbeiterpartei PKK. Abduls Vater sagt aus, deshalb mehrmals verhaftet und gefoltert worden zu sein. Auch andere Teile der Familie schaffen es nach Deutschland, sie werden als politisch verfolgt anerkannt. Nur Abdul, seine Geschwister und Eltern landen in Hessen, ihr Asylantrag wird abgelehnt. Die Familie wird aber weiter geduldet.

Elf Jahre lebt sie in dem hessischen Dorf. Weil Abdul besser Deutsch spricht als seine Eltern, kümmert er sich als ältestes von sieben Geschwistern um die Papiere. Mal bekommt die Familie eine Duldung für drei Monate, mal für sechs, mal nur für ein paar Wochen. Abdul spielt im Fußballverein TSV 1900 Wabern, ist Schülersprecher und viele seiner Freunde wissen gar nichts vom Status der Familie. Warum auch? Die Familie gilt im Dorf als „bestens integriert“, so steht es später in Zeitungsartikeln. Abdul hat eine Ausbildungsstelle bei VW in Baunatal sicher.

Doch der 4. Oktober 2005 reißt die Familie auseinander. Frühmorgens klingeln die Beamten, der Vater wird gemeinsam mit vier Kindern in die Türkei abgeschoben. Eine Schwester liegt gerade im Krankenhaus, wird operiert. Deshalb dürfen sie und die Mutter bleiben, dazu noch die älteste Schwester als Dolmetscherin. Und Abdul? Der ist an diesem Morgen nicht zu Hause. Er hat bei Freunden übernachtet. So beginnt sein Leben in der Illegalität.

Abdul versteckt sich bei Verwandten in der Nähe seines Dorfs. „Ich wusste nicht wohin, Hessen war ja mein Zuhause“, sagt er heute. „Am Anfang habe ich auch gehofft, dass schnell alles gut wird.“ In den Medien ist die Abschiebung der Familie mehrere Monate lang ein großes Thema. Der „Stern“ besucht die Geschwister sogar bei der Großmutter in der Türkei, sie leben dort in großer Armut. In Deutschland stellen sich Nachbarn mit Protestplakaten vor das Haus der Familie, Politiker schalten sich ein, Petitionen werden gestellt, die Härtefallkommission tagt. Doch an der Entscheidung ändert das nichts.

Gegen Abdul gibt es einen Haftbefehl. Wenn er erwischt wird, wird er sofort abgeschoben und darf dann mehrere Jahre nicht mehr nach Deutschland einreisen. In der Türkei müsste er sofort zum Militär. Noch heute fängt Abdul an zu schwitzen, wenn er über seine Angst vor der Abschiebung reden muss. Seine Erinnerungen an die Türkei sind die eines neunjährigen Kindes: Er musste mitansehen, wie sie seinen Vater holten, die Straßen waren voller Panzer. Niemals will er zurück.

In Wabern aber kann er auch nicht bleiben, hier kennt ihn jeder, zu groß ist die Gefahr, dass irgendwer irgendwann der Polizei einen Tipp gibt. Er hat einen Cousin in Ribnitz-Damgarten, der holt ihn ab. Von seinem alten Leben kann er nur eine Reisetasche voll Kleidung mitnehmen.

An der Ostsee begegnet Abdul wenige Monate später Una zum ersten Mal. Sie ist 2006 gerade mal 16 Jahre alt, in dem kleinen Ort aufgewachsen und geht noch zur Schule. Er ist 21, jobbt in Eisdielen und Dönerläden. Sie fahren mit Freunden einen Abend nach Rostock. Sie findet ihn prollig, er findet sie kindisch.

Die kommenden Jahre schlägt Abdul sich irgendwie durch, oft ist er verzweifelt. 2009 hört er von Kirchengemeinden, die helfen können, zurück in die Legalität zu finden. Er fährt nach Berlin und trifft dort Jörg Passoth, einen evangelischen Pfarrer. Der hat vor 30 Jahren „Asyl in der Kirche“ mitbegründet, ist Anfang 70 und verspricht seiner Frau seit Jahren, dass das nächste Kirchenasyl nun wirklich sein letztes sei. Und macht doch weiter. So ist es auch, als er Abdul trifft und beschließt, ihm zu helfen. Abdul zieht nach Berlin.

Die Wohnung, in der Jörg Passoth Abdul unterbringt, gehört zur Samaritergemeinde in Friedrichshain-Kreuzberg. In Deutschland leben 2013 etwa 64 Menschen in Kirchenasyl. Mitglieder der Gemeinde gründen mit Pfarrer Passoth für Abdul einen Unterstützerkreis. Jeder gibt im Monat zehn Euro, so können sie ihm die Wohnung, Kleidung und Essen bezahlen. Das Wichtigste aber ist: Sie schützen ihn vor den Behörden, verhandeln für ihn. Die Polizei stürmt in Deutschland keine Kirchen mehr, deshalb sind Flüchtlinge dort sicher – obwohl das Kirchenasyl keine rechtliche Grundlage hat.

An den Wochenenden fährt Abdul regelmäßig zurück an die Ostsee, in Berlin kennt er keinen, in Rostock hat er Freunde. Die aber sind so, wie junge Männer sind: Sie gehen in die Disko, trinken Alkohol und fahren gerne schnell. Für Abdul ist das alles gefährlich, jederzeit könnte er kontrolliert werden. Einen Abend geht er trotzdem mit. In der Rostocker Diskothek „Fun“ trifft er Una, die beiden haben sich vier Jahre nicht gesehen. In seiner Hochzeitsrede wird Abdul später sagen: „Sie sah so gut aus, ich dachte, da musst du dranbleiben.“ Una kichert und sagt: „Dabei sah ich damals ganz künstlich aus, blond gefärbt, Plastikfingernägel und so.“ Una und Abdul tauschen Handynummern aus.

Abdul lädt Una zum Frühstück in die Stadtbäckerei ein. Eine Woche lang, jeden Morgen. Sie reden viel, aber Abdul erzählt nicht gern von sich, das fällt ihr schnell auf. Am Ende der Woche fragt sie ihn: „Wieso kannst du eigentlich kein Auto fahren?“ Da erzählt er es ihr, weil er verliebt ist, weil er ihr irgendwie vertraut: „Ich bin illegal in Deutschland.“ Sie lacht, denkt erst, es sei ein Scherz. Und lässt sich dann mit ihm auf ein neues Leben ein.

Am Anfang pendelt Abdul zwischen der Wohnung in Berlin und Unas Wohnung in Ribnitz. Es sind ihre ersten verliebten Monate. Er geht bei Unas Familie aus und ein, auch wenn die noch nichts von seinen Problemen weiß. Una lernt, was es heißt, Geheimnisse zu haben.

Una folgt Abdul nach Berlin. In der kleinen Flüchtlingswohnung ist nicht mal Platz für ihre Möbel. Doch Pfarrer Passoth hat es geschafft, eine Ausbildungsstelle für Una und Abdul als Krankenpfleger zu finden. Die Schule hat Abdul aufgenommen, obwohl er weder Prüfungen schreiben noch im Krankenhaus arbeiten darf. Für die Prüfungen müsste er für die Behörden existieren, fürs Pflegen bräuchte er eine Versicherung. Aber die ersten Monate kann er mitlernen. Alle haben nun das Gefühl, dass es vorwärtsgeht. Abdul und Una wollen heiraten.

Doch ein gutes Jahr später sitzen die beiden bei Jörg Passoth auf dem Sofa und sind kurz davor, sich zu trennen. Sie können einfach nicht mehr, das Leben ist hart, wenn es einen von beiden nicht geben darf. Abduls Klasse schreibt gerade ihre Prüfungen, er muss zu Hause sitzen. Anders als in Rostock sind in Berlin viele Strecken zu weit zum Fahrradfahren. Die Bahn aber ist gefährlich für Abdul, er hat zwar immer ein Ticket, aber trotzdem Angst vor Kontrollen. Er spricht kaum mehr, bekommt Panik. Ein Gutachter bescheinigt ihm ein Trauma, die ganze Angst vor der Abschiebung bricht aus ihm heraus. Una und Abdul müssen raus aus der Flüchtlingswohnung, andere brauchen den Platz. Una trägt schwer an der Verantwortung. Sie finanziert zwei Menschen mit ihrem Ausbildungsgehalt und muss alleine auf Wohnungssuche gehen, nicht mal auf dem Klingelschild darf Abduls Name stehen. Ihre Hochzeit, einmal eine romantische Idee, ist zum bürokratischen Akt geworden, den sie ständig mit den Helfern besprechen und planen müssen. In dieser Zeit streiten sie viel.

Una weiß heute noch, was der Pfarrer am Ende des Gesprächs gesagt hat. „Wirklich glauben heißt auch, an etwas zu glauben, das man noch nicht sehen kann.“ Er bringt sie dazu, richtig miteinander zu reden. Über Dinge, die schlecht laufen, aber eben auch über Dinge, die sie freuen. Und tatsächlich: Als Una endlich eine Wohnung findet, da geht es ihnen besser. Una stellt Kerzen und Bilder der Familien auf, sie schauen abends zusammen Fernsehen. Das ist es, was sie wollen: zusammen sein. Aber das soll endlich auch auf dem Papier stehen.

Wenn Una und Abdul verheiratet sind, dann hat er ein Recht auf eine Aufenthaltserlaubnis. Aber heiraten kann ein Ausländer in Deutschland nur mit einem gültigen Stempel im Reisepass. Und Abduls Pass liegt seit dem Abschiebeversuch vor acht Jahren bei der Ausländerbehörde in Hessen. Um ihn wiederzubekommen, muss Abdul sich stellen. Gemeinsam mit Pfarrer Passoth fährt er nach Hessen. Sie hoffen auf eine Duldung, weil er einen Ausbildungsplatz hat, weil er freiwillig kommt und weil er jemanden hat, der ihn heiraten will. Doch als sich die Männer bei der Ausländerbehörde vorstellen, sieht der Mitarbeiter auf seinem Bildschirm den Haftbefehl und ruft die Polizei. Abdul wird verhaftet. Ihn erwarten ein Strafverfahren, weil er sich illegal in Deutschland aufgehalten hat, und die Abschiebung.

Die Polizisten bringen Abdul in die Justizvollzugsanstalt Gießen. Er hat sich zwar vorgenommen, ruhig zu bleiben, aber als die Zelle abgeschlossen wird, da packt ihn die Angst. Kein Psychologe oder Sozialarbeiter hilft ihm. Eine Woche sitzt Abdul in der Zelle, dann wird er dem Richter vorgeführt. Das Strafverfahren wegen illegalen Aufenthalts endet mit 90 Sozialstunden, Abdul bleibt damit ohne Vorstrafe. Die Abschiebung droht trotzdem.

In Berlin geht Una zum Standesamt. Es gibt eine Chance, die Ausländerbehörde doch noch zur Duldung zu zwingen: wenn das Standesamt einen Hochzeitstermin festlegt. Una hat schon vor einigen Monaten an Papieren eingereicht, was sie nur hatte. Trotzdem lässt man die junge Frau jetzt auflaufen. Die Beamten sagen, sie müssten erst in aller Ruhe die Heiratsabsicht prüfen, so was dauere Wochen – mindestens. Sie nimmt die Unterlagen wieder mit.

Abends weint sie am Telefon, aber sie gibt nicht auf. Sie wendet sich an Irina Linnenbank, Standesbeamtin in Ribnitz-Damgarten, Unas Heimatort. Nachdem die alle Unterlagen gesehen hat, beschließt sie: Wenn Una ihr eine Vollmacht von Abdul zur Eheschließung bringt, dann setzt sie einen Termin fest. Abdul ist da schon eine gute Woche in der JVA Gießen. Mit ihrer Mutter setzt sie sich ins Auto und fährt die Nacht durch. Dann steht sie vor dem Gefängnis. Dieser brutale Betonklotz ohne richtige Fenster, das ist fast zu viel für sie. „Das war der schlimmste Moment in den ganzen Jahren“, sagt sie später. Sie haben eine halbe Stunde Zeit, Abdul probiert die Ringe an und unterschreibt die Vollmacht.

Während Una zurück an der Ostsee um einen Termin zum Heiraten kämpft, wird Abdul in das Abschiebegefängnis am Frankfurter Flughafen gebracht. Die Abschiebung ist nur noch wenige hundert Meter Luftlinie entfernt. Nach zwölf Tagen öffnet sich Abduls Tür. Doch die Beamten bringen ihn nicht zum Flugzeug. Sie haben einen Brief vom Ausländeramt bekommen. Standesbeamtin Linnenbank hat den Hochzeitstermin auf den 21. Mai festgesetzt. Abdul sei bis zur Trauung geduldet, heißt es in dem Brief.

Nach der Trauung hält Pfarrer Passoth eine kleine Rede, er ist Abduls Trauzeuge. Er dankt der Standesbeamtin. „Niemand musste in diesem Fall etwas tun, was nicht rechtens war“, sagt er, „aber daran, wie Menschen ihren Ermessensspielraum nutzen, sieht man doch, wie sie gepolt sind.“ Linnenbank lächelt verlegen. Sie hat während der Zeremonie gestockt. Bei den vielen Hochzeiten, die sie schon begleitet hat, weinte zuvor noch nie ein Brautpaar bei dem Satz: „Ich stelle fest: Die rechtlichen Grundlagen für die Eheschließung sind erfüllt.“

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