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Politik: Sie sprengen das Format

Von Christiane Peitz

Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Heute Abend werden die Gäste der BerlinaleEröffnungsgala einer Forschergruppe aus dem 19. Jahrhundert bei ihrem Versuch zusehen, in Afrika das fehlende Bindeglied zwischen Mensch und Affe aufzuspüren. „Man to Man“ von Régis Wargnier oder Wie alles anfing.

Wie es weitergeht: Elf Spieltage lang, in 250 Filmprogrammen und mehr als 700 Vorstellungen werden den Filmfestbesuchern wieder die Augen übergehen. Den Sensationslustigen und den Marathonguckern, den Einkäufern, den Cineasten, den Autogrammjägern vor dem Berlinale-Palast, den Kritikern.

Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Noch nie gab es, in allen Festivalsektionen, so viele Kinogeschichten über menschliche Grausamkeiten wie in diesem Jahr. Überall Völkermorde, Terror, Gewalt: Ruanda und Uganda, Tschetschenien, Nicaragua, die Nazi-Zeit. Zu den Helden der Wettbewerbsfilme zählen palästinensische Selbstmordattentäter, aber auch ein tapferer Hotelmanager, der in Kigali mehr als 2000 Tutsi das Leben rettet. Und die Widerstandskämpferin Sophie Scholl.

Die Berlinale, eine moralische Lehranstalt? Der Boom der Dokumentarfilme reißt auch auf dem Festival nicht ab: Ist das nun die Fortsetzung der Politik mit cineastischen Mitteln? Spätestens seit „Fahrenheit 9/11“, Michael Moores filmischer US-Wahlkampfansage, hat sich herumgesprochen, dass das Kino auch ein Ort der Gegenöffentlichkeit ist. In einer Medienwelt der omnipräsenten Kameras und embedded journalists bringt die Fernsehbilderflut ja nicht nur Aufklärung, sie macht uns auch blind. Blind beispielsweise für die schmutzigen, verleugneten Kriege der Gegenwart. The whole world is watching – und zappt weiter. Weil wir Vielseher sind, sind wir auch notorische Weggucker. Aber das Kino kann dem entgegensteuern: weil es sich mehr Zeit nimmt als die ins Nachrichtenformat gezwängte TV-Reportage. Und weil es, mit großen Bildern und großen Gefühlen, die Aufmerksamkeit des ungeduldigen Publikums erregen kann. Wenigstens vorübergehend schlägt es uns in Bann.

Und wo bleibt die Party, wo bleibt Hollywood? Wegen der zeitlichen Nähe zum Oscar machen sich die amerikanischen Gäste diesmal rar. Was soll’s: Das US-Kino schwächelt ohnehin. Und dem neuen Europa tut es gut, wenn dessen Bewohner einander auf der Suche nach einer künftigen europäischen Identität die eigenen Geschichten erzählen – zumal in diesem für die alte Welt so geschichtsträchtigen Jahr.

Die eigentliche Sensation des Kinos, hat Ingmar Bergman einmal gesagt, ist die Großaufnahme des menschlichen Gesichts. Eine Heldin wie wir: Sophie Scholl war eben keine Heilige, sondern ein gewöhnliches Mädchen aus Ulm. Deshalb verehren wir die Stars, feiern Partys mit ihnen und hoffen, dass ihr Glamour ein wenig auf uns abstrahlt. Sie strafen den Kleinmut Lügen. Sie lassen uns ahnen, dass der menschliche Faktor die Gebote der Politik und die Macht des Schicksals aushebeln kann. Es ist kein Naturgesetz, dass der Mensch des Menschen Wolf ist. Den Extremisten dieser Welt kann er die Besonderheit des individuellen Mitgefühls entgegensetzen. Aufregend zu sehen, was eine Einzelne, ein Einzelner eben doch ausrichten können!

Auch das ist die Berlinale: eine etwas andere Spaßgesellschaft, in der der Zuschauer aus dem Staunen über seinesgleichen nicht mehr herauskommt.

Tiere feiern übrigens keine Feste.

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