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Politik: Sie tun nicht, was sie wissen

REGIERUNGSERKLÄRUNG

Von Bernd Ulrich

Wer wollte nicht hoffen dürfen in diesen Oktobertagen, die sich schon nach November anfühlen? Da die Wirtschaft mit Entlassungen und Aktienverkäufen überaus beschäftigt ist, richtet sich der hoffende Blick wie von selbst auf die Politik. So auch gestern, als der Kanzler versuchte, seine Regierung zu erklären. Und wer sich richtig aufs Hoffen konzentrierte, wer des Kanzlers routinierten Tonfall zu überhören vermochte, der konnte in seiner Rede einiges, vor allem Ehrliches finden, worauf sich Hoffnung gründen ließe.

Schröder hat den Bürgern gesagt, dass schwere Zeiten auf sie zukommen und vom Einzelnen mehr verlangt wird als bisher. Er hat sich gegen „vermachtete Strukturen“ gewandt und die Gewerkschaften unüberhörbar mitgemeint. Er hat viel von Freiheit und Individualität geredet, der sozialdemokratische Bundeskanzler ging sogar so weit, den Wohlfahrtsstaat in seiner heutigen Form nicht bloß als unbezahlbar, sondern als „unmenschlich“ zu bezeichnen. Der Kanzler weitete den Gerechtigkeitsbegriff aus auf die Generationen und wandte sich darum gegen das Schuldenmachen. Und die Steuern dürften ebenfalls nicht erhöht werden.

Damit nicht genug: Schröder pirschte sich bis auf wenige Millimeter heran an die ganze Wahrheit. Dass es in Deutschland auf absehbare Zeit keinen Reichtum zu verteilen gebe, der gerechte Staat daher allenfalls mehr Chancen bieten kann, nicht aber mehr Wohltaten. Der Kanzler war so klar und wahr, fast hätte es einem Tränen der Freude in die Augen getrieben. Der ein oder andere besonders talentierte Hoffer wird womöglich ein entschiedenes „Bravo“ oder ein erleichtertes „Endlich“ in den Fernseher gejubelt haben. Denn Schröder hat gesagt, endlich, worauf es in Deutschland in den nächsten Jahren, in den Zeiten der Knappheit ankommt: es besser zu machen, ohne mehr zu haben.

Dann jedoch, der KanzlerBeifall war kaum verebbt, erinnerte man sich, wessen Regierungserklärung das war. Schröder tat gerade so, als wäre der Koalitionsvertrag gar nicht das Werk von Roten und Grünen. Doch sind nicht sie es, die – von wegen Generationengerechtigkeit – alle zur Rentenkasse bitten außer den Rentnern? Hat nicht soeben Hans Eichel seinen Sparkurs aufgegeben und durch das Lippenbekenntnis ersetzt, irgendwann wieder damit anzufangen? Hat es nicht gerade diese Regierung angesichts der Wirtschaftskrise für richtig erachtet, dass der Staat mehr Geld bekommt und die Bürger weniger? Werden dem „inhumanen“ Wohlfahrtsstaat nicht von dieser Regierung mittels erhöhter Lohnnebenkosten noch mehr Mittel zugeführt?

Wieder trieb es einem die Tränen in die Augen, diesmal Tränen der Wut: Sie tun nicht, was sie wissen. Erneuerung, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit – genau so müsste es gemacht werden, aber sie tun es nur ausnahmsweise. Schröder hat gestern den rot-grünen Grundwiderspruch nicht behoben, er hat ihn vertieft.

Sie kennen und verletzen die richtigen Prinzipien, sie besitzen und ignorieren Leitideen, die sogar verständlich sind und die Bürger darum über die unausweichlichen Schmerzen hinwegtrösten könnten. Verzicht, für eine stabile Währung und damit die Jungen nicht so belastet werden, also Unterstützung für Eichels Sparkurs – das konnte jeder begreifen. Verzichten und die Verschuldung dennoch ins Endlose treiben lassen – das verwandelt jeden Bürger in eine Ich-AG. Offenbar ist die rot-grüne Regierung zu feige, ihre Ideen auch umzusetzen.

Bei allem rot-grünen Gebell gegen Lobbyisten drängt sich der Eindruck auf, dass sie vor lauter Lobbyisten das eigene Volk nicht mehr sehen. Sie ducken sich vor Hundebesitzern und Kohlekumpeln, vor Rentnern und der sozialdemokratischen Klientel.

Kann man darauf hoffen, dass die Regierung irgendwann die Politik macht, die sie formuliert? Dass Schröder seine Regierungserklärung nicht nur liest, sondern auch hört? Wenn nicht, dann kann man sich doch auf eine lebhafte Opposition freuen. Angela Merkel hat so gewitzt polemisiert, dass des Kanzlers betont gelangweiltes Cäsarenhaupt sich plötzlich doch hob. Vorsicht und Wachsamkeit waren da zu sehen: In vier Jahren kann sie mir gefährlich werden.

Deutschland hat es eiliger.

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