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Politik: „Sie werden dich jagen“

Vor 30 Jahren trat Willy Brandt zurück – aus dem ersten SPD-Kanzler der Nachkriegszeit wurde der erste Elder Statesman Deutschlands

Um 23 Uhr 35 übergibt Horst Grabert, der Chef des Bundeskanzleramtes, dem Bundespräsidenten einen handgeschriebenen Brief des Bundeskanzlers. Schon wenige Minuten später, Punkt null Uhr am 7. Mai 1974, verbreitet der Norddeutsche Rundfunk, was Willy Brandt an Gustav Heinemann geschrieben hat: Der erste sozialdemokratische Regierungschef der Bundesrepublik Deutschland verzichtet auf sein Amt. Noch in der Nacht verbreitet sich die Nachricht in Windeseile. Bonner SPD-Mitglieder stellen Kerzen auf, eine rote und sieben weiße, vor der Dienstvilla des Außenministers auf dem Venusberg 12, in der Brandt auch als Kanzler noch wohnt. Lange vor dem Morgengrauen ziehen etliche Dutzend Jungsozialisten mit brennenden Fackeln zu einer Sympathiekundgebung vor Brandts Wohnstatt.

Quälende Wochen und Tage waren dem schweren Schritt vorausgegangen. Vor kurzem erst hat Brandt erfahren, was der Sicherheitsapparat – Verfassungsschutz, Bundeskriminalamt, Generalbundesanwalt – und auch Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP), selbst SPD-Fraktionschef Herbert Wehner schon seit vielen Monaten wissen: In unmittelbarer Nähe des Kanzlers hält sich ein Spion des Nachrichtendienstes der DDR auf – Günter Guillaume, zuletzt einer von Brandts persönlichen Referenten.

Dieser Vorgang ist schlimm genug, auch wenn längst nicht klar ist, wie weit Guillaume Kenntnisse von Staatsgeheimnissen erlangen und verraten konnte. Doch noch gravierender ist das Gemisch aus bigotten, bösartigen und frei erfundenen Gerüchten über vermeintliche Frauengeschichten des Kanzlers, von denen Guillaume angeblich wisse und die ihn womöglich zum Erpressungsopfer des Ostens machen könnten. „Herr Bundeskanzler, das sitzen wir doch auf einer Backe ab“, sagt Vizekanzler Walter Scheel (FDP) zu Brandt in der Nacht der Rücktrittsentscheidung. Doch der Außenminister hat gut reden: Selbst ist er nicht betroffen und in wenigen Tagen hat er die Regierungslasten ohnehin hinter sich. Am 23. Mai steht seine sichere Wahl zum Bundespräsidenten an. Andere Weggefährten, vor allem Wehner, bleiben zweideutig in ihrer Solidarität mit dem Regierungschef.

Doch vermutlich wusste Brandt am besten, dass er nur noch für kurze Zeit die Freiheit zum souveränen Amtsverzicht haben würde. Wenn erst einmal, nach Bekanntwerden von Einzelheiten der Spionageaffäre, die vorhersehbare Schmutz- und Verleumdungskampagne einsetzen würde, werde er vom Hof gejagt. „Sie werden dich jagen und in sechs oder acht Wochen zum Rücktritt zwingen“, so zitiert Peter Merseburger in seiner Brandt-Biographie Egon Bahr, den engsten Weggefährten des Kanzlers. „Nur jetzt bestimmst du noch das Gesetz des Handelns.“

Nach der Entscheidung, als Brandt vor die SPD-Fraktion tritt, wird Bahr sein weinendes Gesicht in den Händen vergraben. Er leidet wie ein Hund unter dem Entschluss, der doch unvermeidlich war. Dass Brandt mit seinem freien Tun schon wieder Freiheit gewonnen hätte, kann man wahrlich nicht sagen. Viele Jahre noch wird die Blässe dieses Augenblicks in Brandts Gesichtszügen zu sehen sein. Parteivorsitzender bleibt er, doch erst nach vielen Jahren wird er seine neue Rolle finden. Und doch liegt in diesem Akt von selbstbehauptender Würde, so, wie Brandt den Rücktritt angegangen und vollzogen hat, der Keim für eine erstaunliche späte Karriere: In der Ära Kohl wird die Bundesrepublik mit Brandt den ersten „Elder Statesman“ ihrer Geschichte erleben.

Spätere Niederlagen, etwa die bitteren Umstände seines Rückzugs vom Parteivorsitz 1987, als Brandt über eine strittige Personalentscheidung den Rückhalt in der weiteren Parteiführung verliert, können seinem Ruf nichts mehr anhaben. Am Lebensabend ist er, der die SPD der Nachkriegszeit erstmals in die Regierung geführt hatte, der mit seiner Ost- und Reformpolitik langfristig nicht nur gute Nachbarschaft nach innen und außen zum Programm fast aller Deutschen erhoben, sondern auch seine Partei mit dem Adenauer-Staat versöhnt hatte, so unantastbar geworden, wie er in den meisten Zeiten seines Lebens unnahbar war.

Peter Siebenmorgen

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