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Politik: Sieg bis in die Krise

Der deutsche Sozialstaat in der bisherigen Form ist nicht mehr zu retten, glaubt die Historikerin Gabriele Metzler: Er war zu erfolgreich

Am Anfang war eine großartige Idee. Und Bismarck. Seine Sozialgesetze – die Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung – lösten die bloße Armenfürsorge ab und bildeten das Rückgrat des noch jungen Nationalstaats. Sie überstanden die großen deutschen Umbrüche weitgehend unbeschadet, den Sprung vom Kaiserreich in die Weimarer Republik ebenso wie die „Stunde Null“ 1945, die auch so gesehen keine war. 120 Jahre lang hatte Bismarcks Sozialstaatskonstrukt Bestand. Doch plötzlich scheint es in die Jahre gekommen. Entmündigung, die keiner mehr haben will. Bürokratie und Ineffizienz, die man sich nicht mehr leisten zu können glaubt. Läutet die Globalisierung dem Sozialstaat nun das Totenglöckchen? Macht ihm das Defizit der öffentlichen Kassen den Garaus? Ist für ihn kein Platz mehr in unserer individualisierten Gesellschaft?

Für Gabriele Metzler ist eines zumindest unbestreitbar: Der Sozialstaat ist an seine Grenzen gestoßen. „Vom bismarckschen Erfolgsmodell zum Pflegefall“ lautet der Untertitel ihres Buches, mit dem sie dessen Geschichte nachzeichnet. Ein guter Zeitpunkt. Im aktuellen Streit um Gesundheits- und Rentenreform, um Agenda 2010 und gesellschaftlichen Wandel ist es hilfreich, sich Bauprinzipien und Genese des Systems bewusst zu machen. Um zu erkennen, wohin man will, muss man wissen, woher man kommt. Viele der aktuellen Probleme sind historisch gewachsen oder bedingt. Die Autorin, eine junge Sozial- und Wirtschaftshistorikerin aus Tübingen, beschreibt und analysiert sie kenntnisreich, verzichtet aber auf vermeintliche Patentrezepte. Das ist wohltuend, angesichts der grassierenden Kommissionitis und Reformitis in Deutschland.

Gelegenheit zur Sozialstaats-Revision gab es zur Genüge. Schon in der Weimarer Republik wurde über Modelle diskutiert, die jetzt wieder als Auswege aufscheinen, das der allgemeinen Volksversicherung etwa. Auch manches Krisensymptom kommt einem bekannt vor. Die Lohnnebenkosten lagen in den zwanziger Jahren bei über 15 Prozent. Und mit elf Prozent des Volkseinkommens gaben die Deutschen für ihr Sozialsystem plötzlich das Vierfache im Vergleich zur Vorkriegszeit aus. Am Ende scheiterte die Republik, der Sozialstaat aber wurde sogar noch durch einen vierten Pfeiler verstärkt: die Arbeitslosenversicherung im Jahr 1927.

Selbst die Nazis mit ihrem Volksgemeinschafts-Ideal brachen nicht mit den sozialstaatlichen Institutionen. Und in der jungen Bundesrepublik wurde der Sozialstaat zum Renner, zwischen den 50er und den frühen 70er Jahren erlebte er seinen Boom. Ermöglichte gesellschaftlichen Wandel weg von der Familie, hin zu individuellen Lebensentwürfen. Und nährte, wie Metzler schreibt, eine „Revolution von Erwartungen“, in der wertvolle Traditionen wie Selbsthilfe und Solidarität scheinbar verloren gingen. Schon im Erfolg habe das Sozialstaatsmodell somit den Keim späterer Krisen in sich getragen.

Mehr noch. Mit seinem Siegeszug zerstört das System seine eigenen Voraussetzungen. So ist es zweifellos ein Erfolg des Sozialstaats, dass die Lebenserwartung in den vergangenen 100 Jahren enorm gestiegen ist. Die Zahl der 80-Jährigen wuchs um bis zu 800, die der 85-Jährigen gar um bis zu 1500 Prozent. Ursächlich dafür sind medizinische Versorgung, öffentliche Hygiene, weniger Armut, bessere Arbeitsbedingungen. Mit höherem Alter aber erhöht sich das Krankheitsrisiko. Und hinzu kommt eine immer länger werdende Lebensspanne: die Pflegephase. Das Rentensystem ist darauf ebenso wenig ausgerichtet wie die Krankenversicherung.

Mit der Allzuständigkeit wuchsen die Bürokratie, der Hang zur Beschäftigung mit sich selber, die Reformresistenz. Und auch die Individualisierung, die ihm jetzt so zusetzt, hat der Sozialstaat forciert. Soziale Sicherungssysteme benötigen aber das Gegenteil: bruchlose Biografien. Die Mitgliedschaft ist auf Dauer angelegt. Nur kontinuierliche Erwerbsarbeit eröffnet den Zugang zu Sozialleistungen. Individuelle Lebensentwürfe müssen Ausnahme bleiben, damit das System nicht in Schieflage gerät.

Die aktuelle Debatte bewegt sich meist an der ökonomischen Oberfläche: Die Kassen sind leer, wie lassen sie sich wieder füllen? Für die Autorin hingegen ist die Krise strukturell. Ihre These: Der Sozialstaat ist an eine historische Konstellation gebunden, die es so nicht mehr gibt. Erstens haben sich die demographischen Voraussetzungen geändert, seit 1972 ist die Geburtenbilanz negativ. Zweitens war der Sozialstaat auf eine Industriegesellschaft ausgerichtet, in der Normalarbeitsverhältnisse und kontinuierliche Beitragszahlung die Regel waren. Drittens sind sich die Menschen nicht mehr einig, was sie unter Gerechtigkeit und Solidarität verstehen. Zudem ist unser Sozialsystem fest mit Nationalstaatlichkeit verknüpft. Nur so kann es funktionieren. Mit der Globalisierung werden die Spielräume des Staats immer enger, insbesondere die Verteilungsspielräume.

Ist der Sozialstaat also am Ende? Metzlers Analyse lässt wenig Raum für Optimismus. Die Hoffnung, das bestehende System retten zu können, sei „die letzte Lebenslüge der postindustriellen Gesellschaft“, schreibt sie. Um sich und ihrer Generation ein Leben ohne Not zu ermöglichen, müssten die „Kinder der Freiheit“ (Ulrich Beck) „die ausgetretenen Pfade ihrer Vorgängergenerationen verlassen".

Was das bedeutet? Mehr Eigenvorsorge. Härtere Zeiten. Vielleicht, so lässt die Autorin anklingen, springt ja ein europäischer Sozialstaat in die Bresche. Bisher freilich ist dahingehend wenig geschehen. Vom Aufbau eigener europäischer Sozialstaatlichkeit keine Spur. EU-Bürger können aber inzwischen in jedem Mitgliedsland soziale Leistungen in Anspruch nehmen – und den nationalen Sozialsystemen damit noch stärker zusetzen.

Gabriele Metzler: Der deutsche Sozialstaat. DVA, München 2003. 269 Seiten. 22,90 Euro.

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