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Politik: Sieg für Chemiekranke

Ein fehlerhaftes Merkblatt für Ärzte wurde korrigiert. Viele Lösungsmittelgeschädigte hoffen nun auf Rente

Berlin - Es war ein Kampf über Jahrzehnte, und Peter Röder hat ihn gewonnen. Wenn in der zweiten Märzwoche im Bundesarbeitsblatt die Neufassung eines „Merkblatts zur Berufskrankheit 1317“ veröffentlicht wird, ist das der späte Triumph eines medizinischen Autodidakten über eine Riege hoch angesehener Wissenschaftler, die – wie sie selber zugeben – einen „unverzeihlichen“ Bock geschossen hatten. Indem sie Ärzten die Symptome der Schädigung durch giftige Lösungsmittel falsch beschrieben, brachten sie möglicherweise zehntausende Chemiekranker um die ihnen zustehende Rente.

Röder ist einer von ihnen. Mit der Neufassung des Merkblatts hat der 41-Jährige, der sich schon als Lehrling mit Holzschutz- und Reinigungsmitteln die Gesundheit ruiniert hat und sich nun mit Arbeitslosengeld II durch den Alltag hangelt, wieder eine reelle Chance auf finanzielle Hilfe. Bislang konnten Ärzte, Berufsgenossenschaften und Richter Kranke wie ihn – seine „Initiative kritischer Umweltgeschädigter“ schätzt ihre Zahl auf bis zu 200000 – als Simulanten oder Alkoholiker abtun.

Die Symptome einer Lösungsmittelvergiftung nämlich sind oft unspezifisch: Magenblutungen, Herz- und Lungenschäden, Kopfschmerz, Aggression, Vergesslichkeit, Lähmungen. Und bislang stand in dem Merkblatt, das der Ärztliche Sachverständigenrat beim Gesundheitsministerium den Medizinern an die Hand gab, ein wissenschaftlich unhaltbares Diagnosekriterium – und das Gegenteil dessen, was in der ausführlicheren gesetzlichen Verordnung steht: dass Krankheitssymptome wieder verschwinden, wenn der Betroffene den Lösungsmitteln nicht mehr ausgesetzt ist. Wörtlich: „Ein Fortschreiten der Erkrankung nach mehrmonatiger Expositionskarenz schließt eine Verursachung durch Lösungsmittel aus.“

Solche Besserung hatten die meisten Geschädigten nicht zu bieten, und so blieb die Zahl der Rentenempfänger verschwindend gering. Genau 81 seien anerkannt worden, heißt es aus dem Gesundheitsministerium. Das gefiel den Berufsgenossenschaften, die eine Menge Geld sparten. Und brachte denjenigen, der die Lösungsmittelschädigung vor acht Jahren in die Liste der Berufskrankheiten aufnehmen ließ, auf die Palme. Es sei „unerträglich“, wetterte der von Röder informierte Ex-Arbeitsminister Norbert Blüm, „dass eine kleine Gruppe gut organisierter Gutachter mittels Fälschung der wissenschaftlichen Grundlagen eines Spezialgebietes die Beschlüsse der Bundesregierung unterläuft, um das Einzelinteresse der Versicherungen (Berufsgenossenschaften) ... über das Allgemeinwohl zu stellen“.

In dem neuen Merkblatt, das dem Tagesspiegel vorliegt, ist der Fehler korrigiert. Nun heißt es ausdrücklich: „Eine Persistenz oder eine Verschlechterung der Erkrankung nach Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit schließt eine Verursachung durch Lösungsmittel nicht aus.“ Die Berufsgenossenschaften, die die alten Merkblatt-Thesen vehement verteidigt hatten, sind offenbar eingeknickt. Irritationen seien beseitigt worden, heißt es verhalten in einer Stellungnahme vom 11. Februar. Gutachter, die von den neuen Kriterien abwichen, müssten dies wissenschaftlich begründen.

Ein „Paradigmenwechsel“, freut sich Röder. Erstmals würden wissenschaftliche Aspekte den wirtschaftlichen vorangestellt. Doch für ihn und den Verband der Umweltmediziner ist es eine späte Genugtuung. „In kaum einem anderen Bereich hat sich die Wissenschaft so von ihrer Pflicht gegenüber der Gesellschaft entfernt und gleichzeitig die rot-grüne Regierung entgegen aller Erwartung so versagt“, sagt Verbandschef Kurt Müller.

Das Ministerium spielt das Thema herunter: Betroffen sei nur ein „sehr kleiner Kreis“ von Menschen. 75 Prozent aller Verdachtsanzeigen hätten sich nicht bestätigt. Und das Merkblatt sei nur Orientierungshilfe gewesen, „ohne verbindlichen Charakter“. Der Sachverständigenrats-Vorsitzende sieht das anders. Zwar sei die Verordnung richtig gewesen, doch selbst oberste Gerichte hätten sich an dem Merkblatt orientiert, sagte Hans-Joachim Woitowitz dem Tagesspiegel.

Ob der Text von Arbeitsmedizinern, die den Berufsgenossenschaften nahe stehen, bewusst gefälscht wurde, ließ Woitowitz offen. Konsequenzen? Die Beiräte würden ohnehin nur für fünf Jahre berufen, sagt die Ministeriumssprecherin. Der Umweltmediziner Müller meint dagegen: „Der Rechtsstaat wird sich daran messen lassen müssen, ob es gelingt, diesen Sumpf trockenzulegen.“

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