zum Hauptinhalt
Mahner aus Berlin. Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) stellte sich beim Leserforum des Tagesspiegel den Fragen des Publikums und des Tagesspiegel-Chefredakteurs Stephan-Andreas Casdorff (l.).

© Thilo Rückeis

Sigmar Gabriel beim Tagesspiegel-Leserforum: Der SPD-Chef mag Lafontaine und Merkel

Der SPD-Chef Sigmar Gabriel nennt beim Tagesspiegel-Leserforum Bedingungen für eine rot-rot-grüne Koalition und verteidigt die umstrittenen deutschen Rüstungsexporte.

Von Hans Monath

Sigmar Gabriel ist dafür bekannt, dass er zuweilen recht robust mit Kritik umgeht und dann seine Kontrahenten nicht schont. Die Zuhörer des Tagesspiegel-Leserforums, die auch manche sehr kritische Frage stellten, erlebten am Dienstagabend einen anderen Sigmar Gabriel. Charmant, geduldig, gelegentlich leidenschaftlich und mit trockenem Humor erläuterte der Bundeswirtschaftsminister und SPD-Chef seine Haltung zu so heiklen Themen wie dem Zustand Europas nach dem Brexit, den von ihm verantworteten Rüstungsexporten oder der Schwäche der SPD nach zweieinhalb Jahren großer Koalition unter Angela Merkel. Die schätzt er als Person sehr, wie er freimütig erklärte – doch dazu später.

Weil der Moderator des Abends, Tagesspiegel-Chefredakteur Stephan-Andreas Casdorff, den Gast als „Vizekanzler“ angesprochen hatte, machte der SPD-Politiker klar, dass dieser Titel für ihn wenig Bedeutung habe – auch deshalb, weil ihn das Grundgesetz nicht vorsehe. Und er erzählte von einer Begegnung mit dem US-Vizepräsidenten. Der habe zu ihm gesagt: „Hallo Sigmar, Vize ist doch ein Scheißjob.“

Der SPD-Chef machte in dem fast eineinhalbstündigen Gespräch nicht den Eindruck eines Mannes, dem seine vielen Aufgaben keinen Spaß machen. Im Gegenteil. „Das eigentliche Amt, auf das ich stolz bin, ist das des Parteivorsitzenden“, meinte er. Und „selbstverständlich“ wolle er das auch bleiben. Mit wenigen Strichen skizzierte er das Menschenbild der Sozialdemokraten: Als linke Volkspartei glaube sie sowohl an die Fähigkeit zur Emanzipation und wie an die zur Solidarität: „Die Kombination von Freiheit und Verantwortung macht die SPD aus.“

Gabriel, der vor wenigen Wochen als Parteichef schwer angeschlagen war, wollte sich nicht auf eine Debatte darüber einlassen, ob er selbst im kommenden Jahr die Kanzlerkandidatur der SPD übernehmen will. Es gehe nicht, dass ein SPD-Vorsitzender sich das Amt nicht zutraue, meinte er. Aber der Parteichef müsse es nicht machen, wenn es einen besseren Aspiranten gebe. Ohnehin glaubt Gabriel, dass 14 Monate vor der Bundestagswahl diese Frage die Bürger weitaus weniger interessiert als die Journalisten. „Wir werden schon einen haben, keine Sorge, wir rufen an, wenn es soweit ist“, versprach er.

In einem Essay hatte Gabriel kürzlich dafür geworben, dass SPD, Linkspartei und Grüne „gemeinsam regierungsfähig“ werden – die Befürworter einer solchen Koalition in allen drei Parteien fühlten sich ermutigt. Auf die Frage, ob ein rot- rot-grünes Bündnis denn eine realistische Machtperspektive sei, gab er nun eine Antwort, die alle Verantwortung für die Möglichkeit dieses Experiments bei den Erben der PDS ablädt: „Es ist eine zumindest rechnerische Machtperspektive. Ob es eine realistische ist, hängt davon ab, ob die Linkspartei will.“

Gelegentlich trifft Sigmar Gabriel noch Oskar Lafontaine

Den Ex-SPD-Chef Oskar Lafontaine, der die Linkspartei lange geprägt hat, treffe er „gelegentlich“, meinte der Wirtschaftsminister auf eine Frage: „Ich finde es schlecht, dass er aus der SPD ausgetreten ist.“ In Wahrheit leide Lafontaine unter seinem Abschied aus der SPD. Auf das allgemeine Lachen hin versicherte Gabriel: „Das ist gar nicht böse gemeint“. Er habe kein persönliches Problem mit Lafontaine, habe ihn „einmal sehr gemocht, als er Sozialdemokrat war“.

Und dann kam ein Bekenntnis, das mancher Zuhörer mit einem erstaunten oder auch ungläubigen „Oh!“ quittierte. Es lautete: „Ich mag auch Angela Merkel.“ Sie sei „eine kluge Frau, sie ist sympathisch. Man soll bloß ihren Machtinstinkt nicht unterschätzen.“ Das hätten in der Union einige Männer gemacht. Und wiederholte noch einmal: „Ich finde, das ist eine ganz interessante Frau, man muss ja nicht politisch einer Meinung sein, um anständig miteinander umzugehen“. Den Haltungsunterschied seiner Partei zur Union beschrieb der SPD-Chef so: „Viele Konservative wollen einfach regieren. Viele Linke wollen einfach Recht haben.“

Kritik an Merkel fehlte nicht in Gabriels Antworten – auch da, wo es um das von Ungarns Premierminister Viktor Orban angekündigte Referendum über die Aufnahme von Flüchtlingen ging. „Das ist doch Volksaufwiegelung“, kritisierte Gabriel. Die europäischen Konservativen müssten erklären, wie sie ihren Parteifreund zur Raison bringen wollten. „Das werde ich Frau Merkel morgen früh auch fragen“, meinte der Minister – offenbar in Anspielung auf das Vorgespräch zur Kabinettsitzung am Mittwoch.

Gabriel sieht viele fundamentale Unterschiede zur Politik der Union – etwa beim Thema Rüstungsexporte. Die Opposition kritisiert den Wirtschaftsminister, weil sich der Wert der Ausfuhrgenehmigungen fast verdoppelt hat. „Das Volumen wäre um ein Vielfaches größer, wenn wir im Bundessicherheitsrat nicht 80 Prozent der Aufträge ablehnen würden“, sagte Gabriel. Ob er sich nicht „schämen“ müsse für die Exporte, hatte ein Zuhörer gefragt. Das wollte Gabriel nicht – und zählte Gründe auf: Lieferungen an Nato-Mitglieder, die unproblematisch seien, den Export gefährlicher Kleinwaffen habe er drastisch reduziert, und dass die schwarz-gelbe Vorgängerregierung „eine kleine Panzerarmee“ für Katar genehmigt habe, könne er nicht rückgängig machen. Zudem könne man sich auch schuldig machen, wenn man keine Waffen liefere – etwa zum Schutz der Jesiden.

Ob Gabriel als Minister wahrnehme, dass sich Berlin in Richtung „Bananenrepublik“ zu entwickeln drohe, wollte ein Leser wissen – eine heikle Frage, weil Gabriels Parteifreund Michael Müller als Regierender Bürgermeister Verantwortung für Schwächen der Hauptstadt-Administration trägt. Der Parteivorsitzende wich nicht aus. „Was die Entwicklung mancher Behörden in dieser Stadt angeht, ist Luft nach oben“, meinte er salopp und schilderte die Schwierigkeiten der SPD, zum 150. Geburtstag der SPD eine Feier am Brandenburger Tor auszurichten. Zugleich nahm er Müller in Schutz, dessen Steuerungsmöglichkeiten Grenzen hätten. „Ich mache es Michael Müller nicht zum Vorwurf, weil die Verwaltung hier ist extrem selbstständig in den Bezirken.“ Zum Schluss viel Applaus - und der Gast will wiederkommen. Zumindest hat er es versprochen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false