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Sigmar Gabriel

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Sigmar Gabriel: Neues denken

Warum dieses Buch? Der Autor ist Sozialdemokrat. Und er fühlt sich herausgefordert. „Links neu denken“ hat er sein Werk genannt. Auszüge

GEFÄHRDETE DEMOKRATIE

Politische Entfremdung

Wir dürfen uns nichts vormachen, unsere Demokratie krankt seit Längerem an einem empfindlichen Repräsentationsdefizit. Die Zahl der Menschen wächst in erschreckendem Ausmaß, die sich in ihr nicht mehr vertreten fühlen. 2006 gaben in einer Studie 82 Prozent der Befragten zu Protokoll, ihrer Meinung nach nähmen die Politiker auf die Interessen des Volkes keine Rücksicht. Nach Umfragen von Allensbach aus dem Frühjahr 2008 sagen 63 Prozent: „Politiker haben kein Verständnis für die Sorgen der kleinen Leute.“ Der Auffassung, Politiker opferten sich auf für ihr Land, waren ganze drei Prozent. Die Zahlen für die Parteien sind nicht besser. Wir müssen aufpassen, hier bei uns in Deutschland und in den anderen Demokratien Europas, dass Demokratie nicht unter der Hand zu einem bloßen Eliteprojekt wird, von dem sich große Teile der Gesellschaft resigniert oder enttäuscht, mutlos oder skeptisch abwenden.

NEUE KLASSENSPALTUNGEN

Die alten Besitzklassen

Seien wir ehrlich: Nie konnte im Ernst davon die Rede sein, wir lebten hierzulande oder in den anderen europäischen Demokratien in nivellierten Mittelstandsgesellschaften, wie die Parole eines einflussreichen Stichwortgebers der Rechten, Helmut Schelsky, einst lautete. Auch in den Glanzzeiten des Sozialstaats blieben die Einkommens- und Vermögensunterschiede beträchtlich und die Chancengleichheit lückenhaft. Dennoch verfügen auch heute noch weniger als zwei Prozent der Einwohner der Bundesrepublik über rund 80 Prozent des gesamten Vermögens.

Einem wachsenden Teil der Gesellschaft, und nun auch den tatsächlichen Leistungsträgern der viel zitierten Mitte, geht die Geduld für die Hinnahme einer solch offenkundig ungerechten Verteilung von Lebenschancen allmählich aus. Das gefährdet nicht nur ihre Motivation zu Höchstleistungen, sondern auch das Vertrauen in eine Demokratie, die scheinbar nichts dagegen tun kann – oder will.

War bis in die 70er Jahre noch der soziale Aufstieg leicht und der Abstieg abgefedert, so ist es heute fast schon umgekehrt: Der Aufstieg ist schwer und der Abstieg leicht. Das kann und wird die Gesellschaft nicht aushalten.

GESTÖRTE BALANCEN

Die unvermeidlichen Widersprüche

Für mich ist die Bilanz von alledem klar: Unsere Gesellschaft ist aus dem Gleichgewicht geraten, wir müssen dringend eine vernünftige Balance zurückgewinnen. Ich bin aber zutiefst überzeugt, dass die Rückgewinnung einer Balance zwischen den zentralen Handlungsfeldern, welche die globalisierte Gegenwartswelt bestimmen, unerlässlich ist, wenn wir unserer Verantwortung für die Zukunft gerecht werden wollen. Unsere Zivilisation steht auf dem Spiel. Es muss uns gelingen, dynamische Entwicklungen zu ermöglichen, ohne soziale Bindungen zu zerreißen; Wachstum und Fortschritt zu schaffen, ohne die Gesellschaft mit immer mehr Zutrittsbarrieren, mit immer mehr Ausschluss zu belasten. Es muss uns gelingen, den Wohlstand weltweit zu mehren, ohne unsere natürlichen Lebensgrundlagen zu ruinieren; kulturelle Vielfalt zu fördern, ohne Feindschaft und Zerfall zu erzeugen; Emanzipation zu ermöglichen, ohne Solidarität zu verlieren. Fortschritt heute, eine moderne Politik der Linken, muss sich an diesen Balancen messen lassen.

EINE POLITIK DER BALANCEN

Das Wünschbare und das Machbare

Von allen anderen Akteuren des linken Spektrums unterscheidet sich die Sozialdemokratie in einer wesentlichen Hinsicht. Das ist die Einheit von Grundsatztreue und praktischer Handlungsorientierung. Denn während die kommunistischen Machttechniker die linken Grundsätze ohne Bedenken über Bord warfen, als sie nach der Macht griffen, verharrte die Protest-Linke zu allen Zeiten in einer politisch sterilen Pose der vermeintlichen Reinhaltung des Grundsätzlichen durch den Verzicht, es mit der Wirklichkeit in Berührung zu bringen. Wie radikal die Gegenwartsdiagnose auch sein mag und wie hoch der Anspruch der linken Grundwerte, am Ende geht es beim sozialdemokratischen Projekt immer um realisierbare Politik. Was gefordert wird, muss machbar sein, was vorgeschlagen wird, muss funktionieren. Die handfesteste Trennlinie war immer: Die Gestaltungslinke beschränkt sich im Gegensatz zur Protest-Linken nicht auf das bloße Postulieren ihrer Grundwerte in vermeintlich unbefleckter Reinheit, um bei der Minderheit der rechtgläubigen Linken Punkte zu sammeln. Heute nimmt die Protest-Linke vor allem Stimmungen auf, die sie mangels ernsthafter Handlungsprogramme am Ende nur enttäuschen kann. Dann kann das Potenzial, das sie entfacht und ausnutzt, in Rechtsextremismus umschlagen. Die Gestaltungslinke hingegen will Mehrheiten organisieren und Wirklichkeit verändern. Sie will Politik machen. Dafür braucht sie Macht. Diese Balance ist die Grundlage für das Gelingen ihres Gestaltungsanspruchs.

WACHSTUM UND WOHLSTAND

Änderung der Spielregeln

Die Balance zwischen Markt und Demokratie ist verloren gegangen. Wo diese neue Logik vorherrscht, verliert der Staat entscheidenden Einfluss auf das volkswirtschaftliche Geschehen. Dass angesichts dieser Entwicklung alte Muster der Kapitalismuskritik neu belebt werden, ist fast schon zwangsläufig. Zumal die Verantwortlichen der Wirtschaft nicht nur so tun, als sei diese Entwicklung die normalste Sache von der Welt, sondern allzu viele von ihnen aus der neuen Lage ungehemmt alle Vorteile ziehen, die zu holen sind. Sie beschädigen mit dem Presslufthammer die Fundamente, auf denen nicht nur sie selbst, sondern wir alle stehen. Dieser Kapitalismus ohne Verantwortung spielt dem linken und rechten Populismus direkt in die Hände. Er ruiniert die öffentliche Legitimation, von der er lebt. Auch wenn die alten Rezepte der Linken in den komplexen Gesellschaften der Gegenwart und in der globalisierten Ökonomie nicht greifen, die Diagnose selbst ist eindeutig: Solche Verhältnisse widersprechen der Demokratie und ihrem Anspruch des Primats der Politik über Märkte und Wirtschaftsinteressen.

Wir brauchen dringend eine Veränderung dieser Verhältnisse.

Ein entscheidender Eingriff muss auf dem globalen Finanzmarkt erfolgen. Hier müssen Mindeststandards der Information, der Transparenz und regulierende Eingriffe sowie Sanktionen gegen Regelverstöße und Missbräuche institutionalisiert werden. Trotz erheblicher Widerstände der Länder, in denen die großen Finanzinvestoren residieren, haben daran letzten Endes alle ein Interesse, weil überall unabsehbarer Schaden entstehen kann, wenn die jetzt eingeschlagene Entwicklung ungebremst weitergeht.

DIE MERKEL-CDU

Die neuen Kleider der Kaiserin

Keine Frage: Die CDU-Vorsitzende und Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel hat aus ihrer persönlichen Wahlniederlage des Jahres 2005 gelernt. Zu konservativ erschien der Mehrheit der Wähler ihre CDU (und CSU) in allen gesellschaftlichen und kulturellen Fragen und zu neoliberal mit Blick auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Seitdem öffnet die CDU- Vorsitzende ihre Partei in einer rasanten Geschwindigkeit für das aufgeklärte und meist großstädtische Publikum – notfalls auch durch Plagiate, denn der Großteil ihrer familienpolitischen „Leistungen“ ist eine schlichte Abschrift sozialdemokratischer Politikentwürfe, gegen die Angela Merkel als Oppositionsführerin noch heftig polemisieren ließ.

Sie zwingt ihre Partei – meist gegen deren Willen – in ein moderneres Outfit.

Insofern existiert das Paradox, dass Angela Merkel zur Durchsetzung ihrer Überzeugungen in der Familien- und Umweltpolitik, aber eben auch zur strategischen Neupositionierung ihrer Partei die SPD braucht. Nur mit Sozialdemokraten bekommt sie dafür eine Mehrheit und nur mit dem Druck ihres Koalitionspartners gelingen ihre politischen Projekte.

DIE PROTEST-LINKE

Links als Rhetorik

Links ist die Linkspartei nur in ihrer Rhetorik. Ihre politische Substanz ist konservativ und ihre Methode ist der Populismus mit kleinem Grenzverkehr nach rechts. Nirgends ernst zu nehmende Handlungsprogramme, stattdessen nur maßlose Anklage und „Weg mit“-Parolen. Die Linke, vor allem ihr neuer Lafontaine-Mainstream, versteht sich in erster Linie auf den verantwortungslosen Gebrauch gesellschaftlicher Stimmungen zur Mehrung des eigenen Einflusses. Populismus ist das Gegenteil von Aufklärung, er vernebelt die Sinne, statt sie aufzuhellen, er nutzt Stimmungen statt Argumente. Wenn links sein weiterhin heißt, was es immer hieß – Emanzipation und Fortschritt zu wollen –, dann ist die Linke nicht links. Sie ist in den Begriffen Erhard Epplers eindeutig strukturkonservativ. Sie will die sozial- und wirtschaftspolitischen Rezepte der 70er-Jahre festschreiben, einer Zeit also, als die Themen Globalisierung, Wissensökonomie und demografischer Wandel noch Zukunftsmusik waren.

DER WEG NACH VORN

Mutige Antworten

Daraus ergeben sich die konkreten Aufgaben für sozialdemokratisches Handeln in Regierungsverantwortung. Das beginnt mit der Bekämpfung der Armut, um die Würde des Einzelnen zu verteidigen – dazu gehören der Mindestlohn und der Kampf für den Erhalt und Ausbau der Mitbestimmungsrechte; dazu gehört der Einsatz für eine internationale Regulierung der Finanzmärkte, damit scham- und rücksichtsloses Renditestreben nicht zum Muster menschlichen Verhaltens wird; das schließt den Kampf um elementare Lebensbedürfnisse wie Arbeit, Gesundheit, Rente, Wohnen und Bildung für alle ein; das verlangt den nachhaltigen Umbau unserer Industriegesellschaft, um ökologisches und ökonomisches Wachstum endlich dauerhaft in Einklang zu bringen; und es bedarf schließlich auch einer konsequenten neuen Balance auf dem Feld internationaler Konfliktlösungen, damit ein Leben in Sicherheit kein Luxusgut für Reiche und Mächtige wird.

Dies alles verlangt Mut, Konfliktbereitschaft, Klarheit im Denken und Entschlusskraft im Handeln. Die Sozialdemokratie war immer dann erfolgreich, wenn sie auf die wichtigen Fragen der Menschen klare und mutige Antworten gegeben hat. Wenn sie zugleich bereit war, den politischen Streit auch konsequent durchzustehen. Leisetreterei war für die Gestaltungslinke stets ebenso inakzeptabel wie haltloser Populismus. Für die Verwaltung des Bestehenden braucht es die SPD nicht. Wer aber demokratische Veränderungen wirklich will, der muss für eine starke Sozialdemokratie eintreten.

Sigmar Gabriel: Links neu denken – Politik für die Mehrheit, Piper-Verlag. Das Buch wird heute im Willy-Brandt-Haus in Berlin vorgestellt.

SIGMAR GABRIEL ist Bundesumweltminister. Der 49-Jährige trat 1977 in die SPD ein und war von 1999 bis 2003 Ministerpräsident des Landes Niedersachsen.

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