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Sigmar Gabriel (SPD), Bundesminister a. D., gibt eine Pressekonferenz in der Bundespressekonferenz (Archivbild, 2019).

© Kay Nietfeld/dpa

Sigmar Gabriel zur Debatte über die Nukleare Teilhabe: „Die SPD verspielt das Vertrauen in ihre Regierungsfähigkeit“

Der SPD-Fraktionsvorsitzende Mützenich will keine US-Atomwaffen mehr in Deutschland. Das ist nicht zu Ende gedacht, meint Sigmar Gabriel. Ein Gastbeitrag.

Sigmar Gabriel ist Außenminister a.D., ehemaliger Vorsitzender der SPD und Vorsitzender der Atlantik-Brücke.

Die Forderung der SPD-Spitze nach einem Abzug der in Deutschland gelagerten US-Nuklearwaffen ist auf den ersten Blick moralisch integer. Wer wünschte sich nicht ein atomwaffenfreies Deutschland? Aber ist sie das auch auf den zweiten Blick? Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Es besteht Unklarheit in unserer Gesellschaft über Deutschlands Rolle in Europa und in der Welt. Und zwar bei Weitem nicht nur in der SPD.

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Was die außenpolitischen Eliten des Landes für richtig halten, ist schon längst nicht mehr automatisch Teil eines breiten gesellschaftlichen Konsenses. Es ist kein Zufall, dass der CSU-Politiker Peter Gauweiler vor gar nicht allzu langer Zeit seine Vision eines neutralen Europas veröffentlicht hat. Es gibt in Deutschland von links bis rechts die Sehnsucht, am liebsten so zu werden, wie die Schweiz oder Österreich: wirtschaftlich erfolgreich, politisch neutral – um nicht zu sagen: irrelevant.

Diese Unklarheit über unsere außen- und sicherheitspolitische Haltung hat nichts mit US-Präsidenten Donald Trump zu tun, sondern mit einer völlig veränderten Wahrnehmung unserer Rolle in Europa und der Welt, wie sie sich schrittweise nach der deutschen Wiedervereinigung bei uns entwickelt hat. Die Bonner Republik wusste und fühlte noch viel mehr als die Berliner Republik, wie wichtig die Verlässlichkeit deutscher Außen- und Sicherheitspolitik für die Stabilität Europas war. Mit der Wiedervereinigung haben wir uns jedes Jahr etwas mehr mit uns selbst beschäftigt in dem Glauben, dass wir endlich auf der besseren Seite der Geschichte angekommen seien.

Außerhalb Deutschlands dagegen wird das immer mehr als Indifferenz wahrgenommen. Als strategische Unfähigkeit sich selbst und andere angemessen einzuordnen. Es wird Zeit, das wieder zu ändern. Dazu allerdings muss die Sozialdemokratie wie jeder andere Teilnehmer dieser Debatte bereit sein, die Folgen ihrer Forderung in den Blick zu nehmen. Und die Gegenrede innerhalb und außerhalb der SPD muss bei den Konsequenzen beginnen und mehr beinhalten, als die erbarmungswürdige Ausrede, der Ausstieg aus der nuklearen Teilhabe sei nicht vom Koalitionsvertrag gedeckt.

Die Atommächte USA, Russland und China liefern sich ein neues Wettrüsten. Niemand außer sie selbst kann das stoppen

Es gibt gute Gründe, erneut auf die Gefahren atomarer Aufrüstung hinzuweisen. Nur gehen diese Gefährdungen aktuell gerade nicht von Europa aus, sondern von der weltweiten Weiterverbreitung von Technologien zur Herstellung von Nuklearwaffen außerhalb unseres Kontinents. Der Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Nuklearwaffen ist zu einem Papiertiger geworden.

Die Lehre aus dem Umgang mit Nordkorea und Iran ist für Autokraten aller Welt schlicht diese: „Wer die Bombe hat, den besucht der amerikanische Präsident. Wer so dumm ist, mit Europa einen Vertrag über den Verzicht auf Nuklerarwaffen zu unterschreiben, dem drohen amerikanische Wirtschaftssanktionen, um das herrschende Regime in die Knie zu zwingen.“ Die SPD-Debatte über die Gefahren nuklearen Wettrüstens entzündet sich am falschen Objekt. Nicht von den US-Atombomben in der Eifel geht die größte Gefahr aus, sondern von nuklearen Technologien außerhalb Europas.

Europa sollte versuchen, die Atommächte an einen Tisch zu bekommen und Vertragsverletzungen sanktionieren 

Die Atommächte USA und Russland und inzwischen auch China tragen die Hauptverantwortung für diese Zerstörung des weltweiten Non-Proliferationsvertrags. Denn nur sie verfügen über die Mittel und Instrumente, die Weiterverbreitung von Nukleartechnologien zu kontrollieren und zu sanktionieren. Niemand anders kann das! Statt zu fragen, wie man die Ausbreitung von Atomwaffen weltweit stoppen und rückgängig machen kann, kündigen die Supermächte ihre seit den 80er Jahren existierenden nuklearen Abrüstungsverträge.

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Die beiden alten Atommächte wollen sich von ihren vertraglichen Bindungen befreien, um bei der weltweiten Aufrüstung im Wettbewerb mit der neuen Atommacht China keinerlei Beschränkungen mehr unterworfen zu sein. Die Aufgabe Deutschlands und Europas sollte deshalb darin bestehen, dieser realen Gefahr der Weiterverbreitung von Nuklearwaffen entgegen zu treten. Natürlich durch den Versuch, die USA, China und Russland an einen Tisch zu bekommen, aber auch dadurch, dass Europa selbst zu massiven Wirtschaftssanktionen gegen die Staaten greift, die sich verbotenerweise an der Weiterverbreitung von Nuklearwaffen beteiligen.

Steigt Deutschland aus der nuklearen Teilhabe aus, kann es gleich auch seine Nato-Mitgliedschaft kündigen

Was würde geschehen, wenn Deutschland den von der SPD-Spitze vorgeschlagenen Weg einschlagen würde? Zuerst würden Polen, Balten und einige andere Osteuropäer anbieten, die nuklearen Fähigkeiten der USA auf ihrem Territorium anzusiedeln. Konsequenter Weise müsste die SPD also dann fordern, die Europäische Union insgesamt atomwaffenfrei zu machen. Unser wichtigster europäischer Partner – Frankreich – würde das schlicht für deutschen Übermut halten und keinen Millimeter dabei mitgehen.

Konsequenterweise müsste Deutschland die Nato verlassen. Denn mit der Mitgliedschaft dort unterstützt Deutschland ja die Strategie der nuklearen Abschreckung. Unsere Nachbarn denken all diese Konsequenzen mit – auch Russland. Das sollte die SPD wissen. Wird das größte Land Europas – Deutschland – zum Spaltpilz europäischer Sicherheitspolitik oder ist sogar auf dem Weg raus aus der Nato, ist das eine Einladung zur Destabilisierung Europas! Nicht nur für Russland, sondern auch für den derzeitigen US-Präsidenten Trump.

Schon heute haben Polen und Balten viel Vertrauen in Deutschland verloren

Schon heute glauben die Polen und die Balten nicht recht daran, dass Deutschland im Ernstfall Artikel 5 des Nato-Vertrages erfüllen würde. Sie glauben nicht, dass wir Deutschen für die Freiheit der Polen bereit wären zu sterben. Ihre Geschichte sagt ihnen das Gegenteil. Exakt das ist aber der Inhalt der Beistandsverpflichtung. Die Bereitschaft Amerikas, das zu garantieren, sicherte einst die Freiheit West-Berlins und Westdeutschlands.

Noch üben Bundeswehr-Tornados, US-Atomwaffen ins Ziel zu bringen.
Noch üben Bundeswehr-Tornados, US-Atomwaffen ins Ziel zu bringen.

© Foto: DPA

Würde nun Deutschland aus der nuklearen Teilhabe ausscheiden, würden nicht wenige unserer Nachbarn sich erinnern, dass deutsche Sonderwege für sie in der Regel gefährlich werden. Geografie und Geschichte bestimmen auch heute noch die Sicht der Völker auf Gegenwart und Zukunft. Beides führt dazu, dass militärische Bedrohungslagen in Polen anders wahrgenommen werden als in Deutschland.

Da hilft es wenig, wenn wir Deutschen mehrheitlich der Auffassung sind, von Russland gingen keine Gefahren für unsere Sicherheit und Freiheit aus. Wer Europa zusammenhalten will, der muss sich immer in die Lage des jeweils verletzbarsten Mitgliedslands versetzen: in der Finanzpolitik in die des Südens. In der Migrationspolitik in die der Mittelmeeranrainer und in der Sicherheitspolitik in die der Polen, Balten und Osteuropäer.

Die SPD hat sich immer zur Westbindung bekannt. Alles andere gefährdet das Vertrauen der Bürgerinnen in ihre Regierungsfähigkeit

Es gibt zwei Lehren für die deutsche Außenpolitik nach der Barbarei der Nazis und zwei Weltkriegen: Nie wieder! Und: Nie wieder allein! Also nie wieder Gewalt und Krieg gegen unsere Nachbarn. Aber eben auch nie wieder das selbstbezogene Handeln Deutschlands, das Europa Jahrhunderte lang in den Konflikt des europäischen Zentrums – Deutschland - gegen die Peripherie – also alle anderen – geführt hat.

So hat es Helmut Schmidt in seiner letzten berühmten Rede auf einem SPD-Bundesparteitag 2011 seiner Partei ins politische Stammbuch geschrieben. Und alle haben applaudiert. Sicher auch die heutige SPD-Führung.

Berechenbarkeit deutscher Außenpolitik war ein so hohes Gut

Berechenbarkeit deutscher Außenpolitik war ein so hohes Gut, dass selbst beim Wechsel der Regierungsmehrheiten weit mehr Kontinuität als Veränderung zu sehen war. Willy Brandts Entspannungspolitik stellte nicht die Westbindung der Bundesrepublik in Frage. Dafür hatte schon Herbert Wehner in seiner berühmten West-Rede im Deutschen Bundestag 1960 gesorgt. Bis dahin geistere in der politischen Debatte immer noch die „Stalin Note“ vom „neutralen Gesamtdeutschland“ durch Teile der SPD.

Wehners Rede war neben dem Godesberger Programm der SPD eine der wesentlichen Voraussetzung dafür, dass die Mehrheit der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger der SPD als Regierungspartei vertraute. Mit einer Rückkehr zur Stalin Note 2.0, zur Idee eines „neutralen Gesamtdeutschland“ dürfte die SPD mit hoher Wahrscheinlichkeit das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in ihre Fähigkeit zum verantwortlichen Regierungshandeln verlieren.

Wehners Rede war im Übrigen auch der erste Schritt zur Wiedervereinigung. Denn nur die feste Verankerung Westdeutschlands im westlichen Bündnis der Nato und die Berechenbarkeit deutscher Außenpolitik machte die Erfolge Willy Brandts und Egon Bahrs in der Entspannungs- und Ostpolitik möglich. Trotz persönlicher tiefer Abneigung hatten die Mitglieder der damaligen SPD-Führung eines gemein: die Fähigkeit zu langfristigem strategischem Denken in der Außenpolitik.

Oder ist die Debatte nur ein Versuch, im Umfragetief kurz Aufmerksamkeit zu erregen?

Niemand sollte glauben, dass im Jahr 2021 und 75 Jahre nach der Beendigung des Zweiten Weltkriegs dieses Vertrauen in die Berechenbarkeit und Verlässlichkeit Deutschlands für unsere Nachbarn an Bedeutung verloren hätte. Wer das Vertrauen der europäischen Nachbarn durch politische Alleingänge Deutschlands aufs Spiel setzt, setzt zugleich Europa aufs Spiel.

Man kann auch mit scheinbar linken und moralisch wertvollen Positionen am Ende ungewollt dort landen, wo die äußerste politische Rechte schon angekommen ist: bei einer „my-country-alone“ Politik. Das muss eine Europapartei wie die SPD bedenken. Jedenfalls dann, wenn ihre Forderung nach Ausstieg aus der nuklearen Teilhabe ernst gemeint ist und nicht nur als Versuch, kurz mal im Umfragetief Aufmerksamkeit zu erregen.

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