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Politik: Sind die deutschen Streitkräfte den neuen Anforderungen gewachsen? (Kommentar)

Verteidigungsminister Rudolf Scharping hat ein Problem. Er trägt die Verantwortung für eine Armee, die nicht mehr zeitgemäß wirkt: Das traditionelle Feindbild kam ihr abhanden.

Verteidigungsminister Rudolf Scharping hat ein Problem. Er trägt die Verantwortung für eine Armee, die nicht mehr zeitgemäß wirkt: Das traditionelle Feindbild kam ihr abhanden. Seit der Wiedervereinigung sieht sich Deutschland nur noch von Freunden umgeben. Weit und breit ist kein Gegner erkennbar, dessen Bedrohungspotential die Aufrechterhaltung der bisherigen Streitkräfte notwendig machte. Dafür wird die Bundeswehr mit neuen Aufgaben konfrontiert, für die sie noch unzureichend ausgebildet und ungenügend ausgerüstet ist. Sie soll, im Verbund mit der Nato oder doch wenigstens zusammen mit europäischen Einheiten, für friedenserhaltende Maßnahmen zur Verfügung stehen. Der Einsatz auf dem Balkan hat gelehrt, dass Friedeserhaltung gleichbedeutend mit Friedenserzwingung, also mit Krieg sein kann.

Der Kosovokonflikt hat aber auch dramatisch die Abhängigkeit Europas von den USA gezeigt. Mit den Konsequenzen hat sich in dieser Woche erst die Kommandeurstagung in Hamburg befasst, seit gestern beschäftigen sie die Nato-Verteidigungsminister in Brüssel. Was zu geschehen hat, ist unumstritten: Die Europäer müssen eigene, so genannte Krisenreaktionskräfte aufbauen. Die finnische EU-Ratspräsidentschaft wird in wenigen Tagen in Helsinki die Planung für eine solche Eingreiftruppe vorstellen. 50 000 Mann sollen bis zum Jahr 2002 einsatzbereit sein. Außerdem müssen die Entscheidungsprozesse zwischen der Nato und der EU besser abgestimmt werden. Da nicht alle Staaten des Kontinents beiden Organisationen angehören, ist das dringend. Die Westeuropäische Union, die WEU, soll die Klammer bilden. Xavier Solana, der frühere Nato-Generalsekretär und nun außen- und sicherheitspolitischer EU-Sprecher, wurde zum WEU-Generalsekretär gewählt, um zwischen den Staaten zu koordinieren.

So sehr sich die USA ein stärkeres europäisches Engagement im Bereich der Rüstung wünschen, so misstrauisch beobachten sie alle Anstrengungen, eine eigene europäische Verteidigungsidentität zu schaffen; also die Fähigkeit, einen großen Einsatz auch ohne Hilfe der Amerikaner durchzustehen. Weil man das eine aber nicht tun kann, ohne dass auch das andere eintritt, wird Washington lernen müssen, damit zu leben, dass mehr Eigenständigkeit zugleich mehr Selbständigkeit bedeutet. Dass sie niemals eine auch nur annähernd so starke Militärmacht wie die Amerikaner werden können, wissen die Europäer.

Das deutsche Sonderproblem in diesem europäischen Szenario besteht in der überholten Struktur der Streitkräfte. Spätestens wenn die vom früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker geleitete Strukturkommission im kommenden Frühjahr die Ergebnisse ihrer Arbeit vorlegt, wird sich die Frage der Allgemeinen Wehrpflicht erneut stellen. Krisenreaktionskräfte können, das ist unstrittig, ganz überwiegend nur aus Berufs- oder Zeitsoldaten bestehen. Wehrpflichtige haben in ihnen in aller Regel keine Funktion. Wer jedoch nicht will, dass eine reine Berufsarmee zum Mittel der Außenpolitik wird (und wer will das ernsthaft?), der muss auf der Beibehaltung der Wehrpflicht bestehen. Eine Zwei-Klassen-Bundeswehr wird es dennoch geben: Die eine, mit deutlich verkürztem Wehrdienst und reduzierter Bewaffnung, als Milizarmee; die andere, exzellent gerüstet und mit länger Dienenden, als ein im Rahmen von Bündnisaufträgen weltweit einsetzbarer Großverband. Nur wenn man sich dazu bekennt, ist das zu realisieren, was Verteidigungsminister Scharping jetzt leisten muss: Sparen und gleichzeitig modernisieren.

Gerd Appenzeller

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