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Obdachlose in Frankfurt am Main. Die reichsten Deutschen leben im Taunus.

© dpa

Soziale Kluft: Maria und Josef im Ghetto des Geldes

Die wohlhabendsten Deutschen leben im Taunus bei Frankfurt: Banker, Manager, Industrielle. Was passiert, wenn man sie um Hilfe bittet? Eine Schauspielerin und ein Journalist haben sich – als obdachloses Paar verkleidet – kurz vor Weihnachten auf den Weg gemacht.

Wo anfangen in diesem Ort, in dem alles klingt, als habe es für Monopoly Modell gestanden: im Schlosshotel? Auf der Parkstraße? Im Golfclub? Auf der Burg? Oder doch beginnen bei dem Zweifel, der uns auf dem Weg von Frankfurt hinauf in den Taunus begleitet hat, hartnäckig wie ein zugelaufener Hund: Darf man mit einer Lüge nach der Wahrheit suchen?

Es ist ein Dienstagmorgen im Advent, kalt und grau. Wir sind mit der S-Bahn-Linie 4 gekommen, heraus aus Frankfurts Hochhauskulisse, durch das Gewürfel der Gewerbegebiete, vorbei an Streuobstwiesen und Pferdekoppeln, immer steiler bergan bis zur Endstation: Kronberg im Taunus, von Nebel verschleiert. Ein deutsches Wolkenkuckucksheim.

Eine Statistik hatte uns hergelockt. Die Gesellschaft für Konsumforschung hat errechnet: Die reichsten Deutschen – jene mit der größten Kaufkraft – leben nicht auf Sylt und nicht am Starnberger See, sondern an den Hängen des Hochtaunuskreises. Industriellenfamilien und Bankiers, Millionäre und Milliardäre.

Wir steigen aus und hauchen Atemwölkchen. Wir, das sind: Viola Heeß, freiberufliche Schauspielerin aus Hamburg, und ich, ein ZEIT-Redakteur – von nun an für eine Woche ein Paar in zertretenen Schuhen und zerschlissener Kleidung, beladen mit Rucksack und Plastiktüten, bereit für ein Experiment. Verkleidet als Obdachlose, ohne einen Euro in der Tasche, wollen wir die Menschen hier oben um Hilfe und Herberge bitten. Das Krippenspiel von Kronberg beginnt.

So ziehen wir los. Zwei wertmindernde Gestalten in Straßen voller Hochpreisimmobilien, wo jedes Haus ein rotes Alarmanlagen-Hütchen trägt, wo die Garagentore so breit sind wie Fußballtore und die Springbrunnen auch im Winter plätschern.

Woran genau erkennt man Reichtum in einem wohlhabenden Land? An Lieferwagen, auf denen »Ihr Schwimmbadwasser« steht? An philippinischen Kindermädchen, die Buggys durch die Stadt bugsieren? An der Tatsache, dass Grundschüler auf ihrem Heimweg starr an zwei Menschen vorbeiblicken, die anders aussehen als Mutti und Vati? An einer Upper-Class-Vereinskultur, von der Aushänge von Theatergruppen, Ballettschulen und Chören künden?

Obwohl Kronberg auf jeder Landkarte verzeichnet ist, vermessen wir eine Art Terra incognita. Kronberg ist kein Reiseziel wie Sylt, hat keine Uferpromenade wie Starnberg, Google bietet hier kein Street View an. Geografisch gesehen, liegt Kronberg mitten in Deutschland, gesellschaftlich aber am Rande der Aufmerksamkeit. Das dürfte vielen der 17.000 Einwohner recht sein. In Kronberg stehen die Villa der Opels und das Gästehaus der Europäischen Zentralbank. Hier leben der ehemalige Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl und Walther Leisler Kiep, dessen Anwesen im Zuge der CDU-Parteispendenaffäre durchsucht wurde. Doch keiner dieser Namen ist im Telefonbuch zu finden. Und obwohl gemunkelt wird, Josef Ackermann sei fortgezogen, gilt Kronberg als Hausdorf der Deutschen Bank. Die halbe Führungsriege soll hier wohnen oder gewohnt haben, auch Exvorstand Hilmar Kopper, Schöpfer des Unworts des Jahres 1994. Er bezeichnete 50 Millionen D-Mark, um die der Immobilienbetrüger Jürgen Schneider damals Hunderte Handwerker gebracht hatte, schlicht als »Peanuts«.

Bis Schneider aufflog, lebte er keine zehn Kilometer von Kopper entfernt, im reizenden Königstein. In einem Privatschloss mit 29 Zimmern, umkränzt von einem vergoldeten Gartenzaun. Heute wohnen in dem Städtchen unter anderem der Opel-Sanierer Nick Reilly, Martin Blessing, Vorstandsvorsitzender der Commerzbank, sowie Jürgen Sarrazin, ehemaliger Chef der Dresdner Bank und entfernter Verwandter des Deutschland schafft sich ab-Propheten Thilo Sarrazin.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat Kronberg einmal als »Wandlitz im Westen« beschrieben, als »Rückzugsort für die, die in der Freien Marktwirtschaft das Sagen haben«. Es ist die Stadt, in der »die Märkte« wohnen: Manager, nach deren Kriterien derzeit die Welt bewertet wird. Hierher ziehen sich abends Menschen zurück, die kürzlich noch Milliarden verzockt haben und heute über das Schicksal ganzer Staaten richten. Was geschieht, wenn diese Reichen unsere Armut sehen? Wächst mit dem Wohlstand das Mitleid, oder nimmt es ab?

Unsere erste Erkenntnis: Die Welt der Reichen ist schön. Nur wessen Blick von Sozialneid verdüstert ist, wird das nicht wahrnehmen wollen. Zentrum der Stadt ist der sanft ansteigende Victoriapark, bestanden von riesigen Zedern, Buchen und Mammutbäumen, die hundert Jahre Zeit zum Wachsen hatten. Tennisplätze ruhen unter einer Decke aus Laub. Rings um den Park reihen sich Villen in hessischem Fachwerkstil und englischer Tudorgotik, weichgezeichnet von Rhododendren, Efeu und Moos. Kronberg sieht aus, als habe jemand eine englische Grafschaft nachgebaut, was sogar stimmt: Ende des 19. Jahrhunderts ließ sich die Mutter des letzten deutschen Kaisers hier nieder, Victoria, Prinzessin von Großbritannien und Irland. Hoch über der Stadt ließ sie sich ein Heimwehschloss errichten, ihren Witwensitz, dessen Stil den Ort prägt. Bei den Maklern von Engel & Völkers heißen die alten Villen heute »Understatement-Objekte«. Stumm schlurfen wir durch den Park und die Gassen der mittelalterlichen Kernstadt. Am ersten Tag wollen wir nicht gleich über Kronberg herfallen. Sondern still auf den Ort wirken und den Ort auf uns wirken lassen. Der Wind treibt einen Prospekt von mamifit über die Wiese, der mit den Worten beginnt: »Bist du kürzlich Mama geworden? Fragst du dich, wie du ohne Nanny und Personal Trainer wieder in deine alten Klamotten passen sollst? Dann bist du bei mamifit genau richtig!«

Kronberg wird von perfekten Mamas bevölkert. Und plötzlich tauchen da diese Jammergestalten auf.

Vormittags scheint Kronberg allein von weiblichen Wesen besiedelt zu sein. Nicht nur von Kindermädchen, sondern auch von Ehefrauen: einkaufend, joggend, gut aussehend. Von diesen sogenannten Taunus-Mamis war in unserem Archivmaterial zu lesen, sie hätten es »nicht nötig« zu arbeiten, weil ein paar Tausend Euro mehr oder weniger im Familienetat keine Rolle spielten. Dafür fahren sie spazieren, worin sich die Boni ihrer Männer manifestieren: Geländewagen von Mercedes und BMW, Porsche und Audi, durchweg schwarz. Die Frauen von Kronberg sind jung, scheinen ausnahmslos schlank zu sein und sehen aus, als kämen sie gerade vom Reiterhof: Pferdeschwanz, taillierte Steppjacke, Jeans und Lederstiefel.

Es wird Mittag, und noch haben wir kein Geld, nichts zu essen, keinen Schlafplatz. Zeit, unsere »Eigenkapitalquote« zu erhöhen. Aber wie? Auf dem Marktplatz betteln? Dort steht vor einem Rewe-Supermarkt ein kleines Weihnachtsbaumwäldchen – und mittendrin hockt: ein Bettler (hoffentlich nicht vom Spiegel).

Viola setzt sich ein paar Straßen weiter vor eine Bäckerei – »wegen Mittagspause geschlossen« –, stellt einen Becher auf und beginnt, Passanten anzusprechen: »Entschuldigen Sie, wir sind ohne Obdach und brauchen Hilfe.« Sogar – oder gerade – hier, im Refugium der Reichen, klingt dieser Satz wie eine Ungeheuerlichkeit. Noch oft werden wir darüber nachdenken, ob wir uns fürs Betteln selbst schämen oder dafür, dass wir mit geheuchelter Armut dem Bettler vor Rewe das Weihnachtsgeschäft verderben.

Vor unserem Aufbruch nach Kronberg hatten wir noch einmal das Buch Deutschland umsonst von Michael Holzach gelesen. Vor 30 Jahren hatte sich der ehemalige ZEIT-Redakteur als mittelloser Mann ausgegeben und war durch ganz Deutschland gewandert. Sein Bericht verkaufte sich 200.000-mal, ein bundesdeutsches Geschichtsbuch. »Ohne Geld durch eine Welt zu gehen, in der sich alles um Mark und Pfennig dreht, hatte etwas Utopisches für mich, erschien mir wie ein Gang in absolutes Neuland«, schrieb Holzach. Auch ihm fiel das Betteln anfangs schwer. »Ich bin mir selbst nicht glaubwürdig«, schrieb er. Im Hochtaunuskreis wurde es ernst für ihn. In einer »stinkreichen Gegend, wo sich die herrschaftlichen Villen hinter haushohem Gebüsch verstecken, als hätten sie ein schlechtes Gewissen«, half ihm niemand. Holzachs Bitten um Essen oder Arbeit wurden abgewimmelt mit Sätzen wie diesem: »Es ist genug Personal im Haus!« Vor lauter Wut und Hunger beging Holzach seinen ersten Ladendiebstahl. Er klaute vier Tafeln Schokolade.

Beschützt von unseren Mützenkrempen, betrachten wir die Passanten: auch die Rentner rank und schlank, Führungsfiguren mit durchgedrücktem Rücken. Nach einer halben Stunde tröpfeln die ersten Münzen in unseren Becher, verbunden mit dem Hinweis: »Aber nicht für Drogen!« Der Mittag geht, die Bäckerin kommt. Als sie uns vor ihrem Schaufenster sitzen sieht, verrutscht ihr das Gesicht. Sie schließt den Laden auf und sagt: »Hier können Sie aber nicht bleiben.« Von innen beäugt sie uns durch ihre Auslagen. Als sie sieht, dass wir aufstehen, reicht sie uns in wortloser Verlegenheit eine Tüte mit drei Brötchen heraus.

Sieben Euro, 43 Cent, drei Brötchen – das ist die Bettelbeute des ersten Tages. Verglichen mit unseren Erwartungen, durch die Holzach-Lektüre vergiftet von Vorurteilen, richtig viel. Verglichen mit den 50000 Euro, die ein Kronberger, wie wir später erfahren werden, auf seiner Hochzeit allein für den Blumenschmuck ausgegeben hat, eher wenig.

Schnell fällt die Dämmerung. Wo schlafen? In einer der leeren Weihnachtsmarktbuden? Auf der Burg, deren Pforte offen steht? Ein Junge hat uns von einer Begegnungsstätte des Bundes der Pfadfinderinnen und Pfadfinder oben am Hang erzählt. Wir steigen eine Straße hinauf, vorbei an immer wuchtigeren Portalen, durch deren gusseiserne Gitter gewaltige Gärten zu sehen sind, tief und schwarz. Jaguare, Porsches, Maseratis jagen an uns vorbei den Berg hinauf. Röhrend kommen die Männer nach Hause.

Das Pfadfinderheim liegt am Ende einer Sackgasse. Über der Tür leuchtet ein roter Herrnhuter-Stern, an den Fenstern kleben Schneeflocken-Scherenschnitte, die Decken sind mit Kiefernholz vertäfelt. Der ganze gute Wille der sechziger Jahre, Geborgenheit in Zwei-, Vier- und Sechsbettzimmern. Ein paar Burschen spielen Tischtennis. Einer fragt leise: »Sind das Penner oder Zecken?«

Den Herbergseltern steht die Ablehnung schon in den Augen, als sie uns erblicken. Ein Paar um die sechzig, zwei müde Gesichter.

»Was wollen Sie denn?«, fragt der Mann.

»Fragen, ob wir bei Ihnen schlafen dürfen.«

»Das geht schon organisatorisch nicht. Wir nehmen nur Gruppen auf.«

Er scheint zu riechen, dass wir kein Geld haben. Er fragt nicht mal danach. Hinter verschränkten Armen hat er sein Urteil längst gefällt.

»Und wenn wir im Garten helfen?«, fragen wir. »Oder in der Küche?«

»Das schon mal gar nicht! Da ist das Gesundheitsamt vor.«

Seine Frau sagt: »Sie können hier gern noch etwas essen...«

»...aber dann kommen die vielleicht nicht mehr weg«, raunt er ihr zu.

Fünf Minuten später stehen wir wieder auf der Straße. In den Händen eine Tüte, eilig gepackt von der Herbergsmutter, darin Klappstullen, Äpfel, Mandarinen und Saft. Wir laufen den Hang wieder hinunter. Auf jedem Weg, in jeder Tempo-30-Zone hinterlassen wir einen Schweif aus Licht, herbeigezaubert von Bewegungsmeldern.

Ist es Trotz, der uns zur Burg treibt, dem Wahrzeichen der Stadt? Heimlich schlüpfen wir in den Burghof, wo der Rotary Club zwei Zelte für den Weihnachtsmarkt aufgespannt hat. In einem rollen wir unser Lager aus und versuchen zu schlafen. Nachts setzt Regen ein. Sturm zerrt am Zelt. Irgendwann murmelt Viola: »Jetzt büßen wir für unsere Lügen.«

Nach dieser Nacht haben wir die innere Distanz zu unseren obdachlosen Doppelgängern weitgehend verloren und die nötige Glaubwürdigkeitspatina gewonnen.

Selbst der Pfarrer schickt sie fort.

Als die Sonne aufgeht, schwimmt Kronberg wie eine Insel auf einem goldenen Wolkenmeer. Im Süden ragt Frankfurts Skyline aus dem Dunst wie ein borstiges Stacheltier. Dort unten wird gearbeitet, hier oben gelebt. Ohne den Pragmatismus des einen Ortes gäbe es vermutlich die Romantik des anderen nicht – und andersherum. Ehrfurchtsvoll lassen wir das große Yin und Yang des Frankfurter Finanzkosmos auf uns wirken.

Im tauglänzenden Victoriapark begegnen wir einer Frau und ihrer kleinen Tochter. Das Mädchen schaut uns an und ruft: »Mama! Da sind wieder die faulen Feiglinge.«

Das arme Kind. Ob seine Eltern die Meldung zur Kenntnis genommen haben, dass die Lebenserwartung deutscher Geringverdiener mittlerweile sinkt? Wird es von ihnen je erfahren, dass es größere Katastrophen gibt als einen Absturz des Dax? Wird es sich je darüber wundern, dass in Deutschland die reichsten zehn Prozent mehr als 60 Prozent allen Vermögens besitzen, die ärmsten 50 Prozent aber nur zwei?

Womöglich ist dem Mädchen gerade eine Kronberger Lebenslogik rausgerutscht: Wem es schlechter geht als einem selbst, der ist faul, feige oder sonst wie ein Versager. Von ganz oben betrachtet, muss die Welt dann von lauter Nichtsnutzen bevölkert sein.

Was ist das für ein Soziotop, in dem Spielmanns Officehouse sitzt, ein Inneneinrichter mit dem Slogan »Führen mit Stil«, der Muammar al-Gadhafis Paläste in Libyen ausstattete und kürzlich auf 19 Flachbildfernsehern für den – inzwischen vom Volk getöteten – Diktator sitzen blieb? Ein Ort, in dem ein Banker namens Peter Gloystein seine CDU-Karriere startete, der 2005 als Bremer Wirtschaftssenator bei einem Weinfest einen obdachlosen Störer mit Sekt übergoss und sagte: »Hier, damit du auch was zu trinken hast!« Ein Ort, in dessen Anzeigenblatt Kronberger Bote ein Militärhistoriker »Militaria & Patriotika bis 1945« sucht.

Wir inspizieren Kronbergs »Toplage«, den Ortsteil Schönberg, Hanglage wie im Voralpenland, Blick bis zum Anschlag. An die sechs Millionen Euro kosten die Villen hier – trotz eines »Mankos für Ästheten«, wie das Wirtschaftsmagazin Capital bedauert: Der Weg hinauf führt durch eine Straße »mit Geschosswohnungsbau«. Was mehr als drei Stockwerke hat, steht im Taunus im Ruf eines Ghettos.

Es ist eine Welt der Namenlosen, die wir nun betreten. An allen Toren, jeder Pforte blanke Klingelschilder, allenfalls Initialen. M., H., K. Einige heißen auch »Mustermann«, andere »Klingel«. Reglos schauen uns Kameraaugen an, aus deren schwarzen Pupillen wir eine Mischung aus Angst und Abscheu zu lesen glauben. In einer Straße wie dieser – dem Ellerhöhweg im benachbarten Bad Homburg – wurde 1989 Alfred Herrhausen von der RAF ermordet. Wir wundern uns, wo die privaten Sicherheitsleute bleiben, von denen wir vorher so viel gehört haben.

Vielleicht sitzen sie in den auffällig vielen Handwerker-Kleinlastern. Sehen uns als Pixelpaar auf ihren Überwachungsschirmen. Oder gibt es hier gar keine Wachdienste? Und all die blinden Klingeln sind eher Attitüde einer Schicht, die sich dem Rest der Gesellschaft kaum mehr zugehörig fühlt? Gedankenwelt und Lebenswirklichkeit der reichen Deutschen sind fast unerforscht, anders als die Armen sind sie den Ämtern kaum Rechenschaft schuldig. Sogar Reichtumsforscher wissen nicht, wie viele Millionäre es in Deutschland gibt, ihre Schätzungen pendeln zwischen 400.000 und 800.000. Genau weiß das niemand, weil Einkommen leichter zu erfassen ist als Vermögen. Auch der aktuelle Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung widmet sich auf 400 Seiten den Armen und auf zehn den Reichen. Erfasste der Bericht den Einfluss im Land, dürften die Seitenzahlen im umgekehrten Verhältnis stehen.

Wir klingeln. Wir warten. Dumpfes Gebell. In den Kameraaugen leuchtet kurz eine Korona auf. Die Menschen hinter den Mauern machen sich ein Bild von uns – und schweigen. Nur selten knarzt ein »Ja?!« aus den Lautsprechern, dann sagen wir: »Wir sind obdachlos und auf der Durchreise und wollten fragen, ob...«

»...nein, danke!«

»...ich arbeite hier nur, tut mir leid.«

»...deutscher Chef nich da. Arbeit bei Bank. Klingelt nächste Haus!«

»...die Hausherrin ist nicht hier, und ich darf nicht helfen.«

Selbst dort, wo die Reichen wohnen, ist es unmöglich, mit ihnen ins Gespräch zu kommen.

Nur eine Frau um die 40, die gerade Einkaufskörbe aus ihrem Mercedes hievt, kann uns nicht entkommen. Sie ist der Typ Familienmanagerin mit Kurzhaarschnitt und Parka. Viola fragt, ob sie die Toilette benutzen dürfe – und macht Bekanntschaft mit einer beheizten Klobrille. Das ist mehr, als zu erwarten war, in jeder Hinsicht. Diese Frau ist die Erste, die uns ihre Tür öffnet, zu einer hell gefliesten Hauswelt mit Fensterfront zur Burg, an den Wänden Kinderzeichnungen. Sie ist auch die Erste, die nach unserer Geschichte fragt, mit der Souveränität einer Personalchefin oder vielfachen Mutter. Endlich können wir unsere Legende erzählen, die von zwei gescheiterten Gestalten auf dem Weg nach Süden, vielleicht nach Spanien, wo sie auf Wärme hoffen.

»Da haben Sie es aber noch weit«, sagt sie.

Endlich der Ansatz eines Gespräches, eine Frage, ein Entgegenkommen. Wir ahnen nicht, dass dies auch das letzte Mal gewesen sein wird.

Bis in den Abend sind uns Menschen und Häuser verschlossen. Bleibt bloß der Pfarrer.

Das Pfarrhaus der evangelischen Kirche sieht aus wie aus einem Adventskalender in die Wirklichkeit kopiert: Holztür, Veranda, Weihnachtsbaum.

Wieder Klingeln, wieder Warten, wieder ein blechernes »Ja!?« aus einem Lautsprecher.

»Wir haben eine Bitte.«

Nach einer Weile öffnet sich die Tür, im hellen Spalt eine schwarze Silhouette. Der Pfarrer.

»Wir sind ohne Obdach und wollten fragen, wo man hier schlafen kann.«

»Meines Wissens gibt es hier nichts.«

»Dürfen wir nicht bei Ihnen übernachten?«

»Nein. Wir haben uns darauf verständigt, dass das nicht geht.«

»Aber Sie sind doch die Kirche.«

Mit diesem Satz ist unsere Verlegenheit zu ihm gewechselt. »Trotzdem«, sagt er.

»Wir haben auch Schlafsäcke dabei.«

»Nein. Und mit Verlaub: So etwas ist hier noch nie vorgekommen.«

Heißt es in der Bibel nicht: »Klopfet an, so wird euch aufgetan«? Und sagt Jesus nicht: »Was ihr getan habt einem meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan«? Wo jeder hat, kann man offenbar nicht helfen lernen.

Und doch: Der Pfarrer macht die Tür nicht ganz zu. Er scheint mit sich zu ringen. Wie oft hat er mit den Kindern der Gemeinde das Krippenspiel geprobt, und jetzt das! Wenn er nicht hilft, wer dann? Er zögert, grübelt, verschwindet dann im Pfarrhaus – nicht ohne vorher vorsichtshalber die Tür zu schließen – und kommt zurück mit 20 Euro, der Adresse einer Jugendherberge 15 Kilometer weiter und einer Plastiktüte, in die er fast all seine Vorräte gestopft haben muss: ein halber Laib Brot, Wurst, Käse, Tomaten, Äpfel, Orangen, Wasser, Kekse. Sogar Gummibärchen.

Die Tasche wiegt so schwer wie sein Gewissen. Und ist so voll, dass wir uns auf einen langen Weg machen könnten. Weit weg von dieser Stadt.

Mit der S-Bahn-Linie 4 fahren wir zurück, vorbei an Pferdekoppeln und Streuobstwiesen, durch das Gewürfel der Gewerbegebiete hinein in Frankfurts Hochhauskulisse, wo wir ein Hotel nehmen. Die Lebensmittel lassen wir in der Bahnhofsmission.

Wird der Pfarrer in dieser Nacht über seinen Ablasshandel nachgedacht haben?

Ob das Mädchen aus dem Park vor dem Einschlafen seine Mutter gefragt hat, wo die faulen Feiglinge geblieben sind?

Und was wird die Frau getan haben, die Viola auf ihre Toilette ließ? Hat sie ihr Bad desinfiziert? Sich von ihrem Mann anhören müssen, dass man keine fremden Katzen füttert? Ist sie beunruhigt oder stolz zu Bett gegangen? Oder hat sie uns vergessen?

"Maria" und "Josef" begegnen ihrem ersten Engel.

Womöglich haben wir kleine Erschütterungen in Kronberg ausgelöst. Ganz gewiss aber in uns selbst. Was hätten wir an ihrer Stelle getan? Hätten wir anders gehandelt? Das sind die Fragen, die sich jedem Kritiker und jedem Tester stellen – und auf die es keine Antwort gibt. Nur einen zweihundert Jahre alten Satz Gotthold Ephraim Lessings: »Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt.« Sein verhasstes Verdienst ist, zu beschreiben, was er sieht.

Am nächsten Morgen trägt uns ein Zug nach Königstein, in Kronbergs siamesische Zwillingsstadt. Dem Veranstaltungskalender nach ebenfalls ein lohnenswertes Ziel: In dieser Woche wird der Weihnachtsmarkt eröffnet. Hier gibt es eine »Winners’ Lodge« und Vorträge zu den Themen »Führen mit natürlicher Autorität«, »Motivation: Endlich Montag!« und »Zufrieden ist nicht genug«. Und im Hotel Falkenstein Grand Kempinski steigt ein »Whisky-Dinner: Bowmore & Auchentoshan mit 5-Gang-Menü von Oliver Heberlein«.

Königstein ist etwas städtischer als Kronberg. Es lässt sich leichter durchschauen. Hier ist Platz für zwei Kempinski-Hotels. Hier sitzen die Juweliere. Hier wurde 1947 die Junge Union gegründet. Hier hat die FDP bei den Kommunalwahlen im März mehr Stimmen bekommen als die SPD. Hier stehen Deutschlands erste Migräneklinik, die psychiatrische Privatklinik Dr. Amelung und ein Spezialkrankenhaus für Herz- und Gefäßkrankheiten. An jedem zehnten Haus, so kommt es uns vor, hängen Schilder von Heilpraktikern, Physiotherapeuten und Psychologen.

Wir wollen es den Menschen dieses Mal leichter machen: Ab sofort ist Viola auch noch schwanger. Hin und wieder werden wir das beiläufig erwähnen.

In der Villa Rothschild Kempinski – laut Bronzetafel am Portal eines der »Leading Hotels of the World« – tagen heute Manager der amerikanischen JP-Morgan-Bank. Als habe ein Konditor es drapiert, steht das spitzgiebelige Schlösschen auf der Kuppe eines großen Parks. Vor der Tür parkt ein Maybach, Einstiegspreis 400.000 Euro. Das Hotel ist einer von vielen geschichtsträchtigen Bauten in der Gegend: Der Bankiersfamilie Rothschild diente es als Sommerresidenz, ehe sie 1938 vor den Nazis in die Schweiz floh. Zehn Jahre später beriet der Parlamentarische Rat hier über das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Jetzt klöppelt Regen aufs Dach.

Als wir auf einem tiefen roten Teppich in die Lobby treten, ist Gelächter zu hören. Männerstimmen. Mächtigenstimmen. An der Wand ein Gemälde, das an den Parlamentarischen Rat erinnert, veredelt mit dem Satz: »Alle Menschen sind gleich«.

Plötzlich steht eine Mitarbeiterin des Hotels vor uns, ebenso erschrocken wie wir. Händeringend fragt sie: »Wie kann ich helfen?« Wir erzählen ihr unsere Geschichte und bedauern sie sogleich. Das ist das unauflösbare Dilemma unserer Recherche: Ausgerechnet jene, die sich auf uns einlassen, drohen in einen Strudel von Solidaritäten zu geraten. Hastig sagt die junge Frau: »Kommen Sie erst mal den Flur runter – hier wurde schon gefragt, was Sie wollen.« Als sie uns durch einen verwinkelten Gang aus den Augen ihrer Gäste schiebt, fällt uns auf: Lange her, dass wir gesiezt wurden. Aus unserem Versteck heraus hören wir, wie sie die Hotels der Stadt durchtelefoniert, Preise verhandelt. Sie fragt auch einen Vorgesetzten, was ein Tageszimmer koste, zum Ausruhen und Aufwärmen. Unter 115 Euro sei leider nichts zu machen, sagt sie, »und Sie müssen noch weiter um die Ecke. Wenn Sie hier gesehen werden, krieg ich Ärger.«

Noch einmal läuft sie in Richtung der Männerstimmen, scheint wieder Rücksprache zu halten und kommt dann mit Frühstücksresten in Alufolie und Tee in Pappbechern zurück. Sie öffnet eine Notausgangstür und flüstert uns ein »Alles Gute« hinterher.

Wenn wir in dieser Geschichte Maria und Josef gewesen sein sollten, dann war diese junge Frau der erste Engel.

Es gibt eine Straße in Königstein, die ist nicht nur steil und lang, sondern auch legendär – der Ölmühlweg, auf dem sich Commerzbank-Vorstand Martin Blessing als Kind seine »Harry-Potter-Narbe« auf der »hohen Stirn« zugezogen hat, wie das manager magazin einmal beschrieb: »Folge eines Nervenkitzels, den der Zehnjährige ausreizte: Auf dem Fahrrad den heimischen Ölmühlweg in Königstein heruntergerast, Tempo, Tempo. Nicht rechtzeitig gebremst. Ein übler Sturz, Hals über Bordsteinkante, bis schließlich der Kopf am Laternenpfahl landete.«

Erstaunlich, wie klein die Welt auch in Zeiten der Globalisierung sein kann: Am oberen Ende des Ölmühlwegs, am Rande des Kinderkosmos von Martin Blessing – dessen Großvater Bundesbankpräsident war und dessen Vater dem Vorstand der Deutschen Bank angehörte –, steht heute das Kommunikations- und Trainingscenter Königstein, 1971 als Schulungszentrum der Dresdner Bank eröffnet und jetzt in Besitz der Commerzbank.

Ob von 218 Zimmern eins frei sein wird?

Auf unserem Weg hinauf sammeln wir mikroökonomische Erfahrung: Mit jedem Höhenmeter steigen die Immobilienpreise – und sinkt das Einfühlungsvermögen, vor 2000 Jahren noch »Erbarmen« genannt.

»Wir sind obdachlos und wollten fragen...«

»...gegenüber ist ein Hotel!«

»...und warum klingelt ihr bei mir?«

»...das ist hier oben zu etepetete für euch.«

Schon vor dem Fitnessclub hat uns ein pubertierendes Mädchen erklärt: »Hier ist’s halt scheiße für solche wie euch, hier ist Königstein.«

So klingt die Königsteiner Logik: Wieso versprechen sich Arme ausgerechnet von Reichen Hilfe?

An den Hängen des Taunus bestätigt sich eine Studie des amerikanischen Psychologen Dacher Keltner. Keltner ist Professor an der University of California und hat kürzlich behauptet, vermögende Menschen seien weniger mitfühlend als ärmere. Bevor er mit seinen eigenen Untersuchungen begann, hatte er Material gesichtet: In einer Umfrage amerikanischer Wohlfahrtsverbände gaben Haushalte mit einem Jahreseinkommen von weniger als 25.000 Dollar an, 4,2 Prozent ihrer Einnahmen zu spenden. Haushalte mit mehr als 100.000 Dollar gaben nur 2,7 Prozent weiter. Wohltätigkeitsforscher aus San Francisco werteten Steuererklärungen von unter 35-Jährigen aus und fanden heraus: Jene mit einem Jahreseinkommen von weniger als 200.000 Dollar spendeten 1,9 Prozent – wer mehr verdiente, nur noch ein halbes Prozent.

Anfangs dachte Keltner, ärmere Menschen seien womöglich religiöser oder politisch eher links. Doch dann kam er zu dem Schluss, dass Arme einfach öfter die Erfahrung machten, dass man »sich gegenseitig helfen« müsse: »Es gibt immer einen, der dich irgendwohin mitnimmt oder auf dein Kind aufpasst.« Genau das befähige sie, die Nöte anderer überhaupt wahrzunehmen. In Keltners Studien erkannten jene Testpersonen, die nur einen Highschool-Abschluss hatten, die Gefühle anderer besser als Höhergebildete und Besserverdienende. Wenn Keltner zwei Probanden zum Kennenlernen zusammenbrachte, konnte er sogar beobachten, wie die aus besseren Verhältnissen eher mit irgendetwas herumspielten, nebenbei kritzelten oder ihre Handys nach Nachrichten durchsuchten. »Dass die Reichen etwas zurückgeben, ist psychologisch unwahrscheinlich«, sagt Keltner. »Was Reichtum und Bildung und Prestige und eine gute Position im Leben einem geben, ist die Freiheit, sich auf sich selbst zu konzentrieren.«

Im Kommunikations- und Trainingscenter der Commerzbank verkündet eine Troika von Bediensteten, es sei kein Platz für uns in ihrer Herberge: »Wir sind nämlich eine Tagungsstätte.«

»Ach so, Sie machen nachts zu?«

»Nein, aber...« Außerdem hätten sie den katholischen Pfarrer angerufen. Da seien wir willkommen.

Das Hotelshuttle zurück in den Ort bleibt den Nachwuchskräften der Bank vorbehalten, trotz Violas vermeintlicher Schwangerschaft. Wieder steigen wir einen Berg hinab wie eine soziale Leiter. Es dauert eine Stunde, bis wir den Pfarrer gefunden haben. Der sagt, mit ihm habe niemand telefoniert. Dennoch lässt er den Küster das Gemeindehaus aufschließen, wo auch der Kindergarten untergebracht ist. Auf einem Spielstraßenteppich rollen wir unsere Isomatten aus. Bis spät in den Abend lauschen wir, bewacht von zwei Schaukelpferden, dem Kirchenchor bei seinen Proben für die Weihnachtsmesse.

Am Wochenende verwandelt sich die Stadt: Manager werden Väter, Anzugsgrau weicht signalroten Outdoorjacken. Auf dem Weihnachtsmarkt herrscht heitere Bilderbuchatmosphäre wie auf Ali Mitgutschs Wimmelbildern. Auffallend artige Kinder und entspannte Eltern – wohlerzogener Familienfrieden. Wo wir auftauchen, bildet die Menge eine Schneise aus Erschrecken und Ekel. Wir gehen zum Glühweinstand des Lions Club, laut Selbstauskunft »eine weltweite Vereinigung freier Menschen, die in freundschaftlicher Verbundenheit bereit sind, sich den gesellschaftlichen Problemen unserer Zeit zu stellen«. Hinter dem Tresen frösteln zwei Herren. Auf unseren Standardsatz »Wir sind obdachlos, kennen Sie eine Bleibe für uns?« reagiert der eine mit: »Draußen?« Und der andere mit: »Nein!« Eilig klappen sie ihre Metallkasse zu.

An diesem Tag ist das Wappen des Clubs größer als seine Güte. Wahrscheinlich muss ein Zeitungsfotograf zugegen sein, damit diese Relation sich umkehrt.

Wir setzen das Wechselspiel zwischen dem Ort und uns im Reichenbachweg fort, Königsteins teuerster Lage: eine friedhofsstille Sackgasse, in der sich säulengeschmückte Villen hinter Thujahecken verbergen. Regen verschleiert den Blick hinunter nach Frankfurt. Wir kauern unter einer Tanne, unserem Rettungsschirm aus Nadeln.

Das ist jetzt aber mal ein klares Signal an die Märkte. Sollten all die »Bankster«-Beschimpfungen und Bändigt die Banken-Schlagzeilen sie beeindruckt haben, wäre nun eine gute Gelegenheit, ein adventliches Ablasspäckchen zu schnüren.

Joggend ziehen junge Paare vorbei, eskortiert von großen Hunden. Wir beobachten Mountainbiker mit Helmen, Schutzbrillen und Prallschutzprotektoren. Wie weiße Ritter aus dem Krieg der Sterne sehen sie aus. Am Wochenende scheinen Schlammspritzer kein Ärgernis für sie zu sein, sondern Sprenkel-Orden, Belege für die fortwährende Veredelung des wertvollen Ichs. Gesprächsfetzen wehen vorbei: »...so was musst du komplett kaufen, sonst hast du immer Ärger mit den Zufahrtsrechten...«

Komisch. In den Nachrichten hört man dauernd von den »verunsicherten Märkten«, von »jubelnden« und »nervösen« Analysten. Ein hypersensibles Volk, das haareraufend Kursstürze verfolgt. Jetzt regt sich in den Gesichtern: nichts. In zweieinhalb Stunden zählen wir 150 Autos. Wieder sind es wuchtige Wagen, Sports Utility Vehicles (SUVs). Sobald sie sich nähern, werden sie langsamer, weil die Insassen einen Blick auf diese beiden Wesen unter der Tanne werfen wollen, als seien sie auf Safari. Dann nehmen sie, Gischt sprühend, Fahrt auf.

Das hohe Ross von heute, es ist ein SUV.

Zwei Autos halten an. Aus dem ersten steigt ein Gärtner in Jeans und Stiefeln. In türkischem Hessisch sagt er, ihm sei zum Arbeiten das Wetter zu schlecht – also könne er uns seinen Proviant schenken: Brötchen, Bananen, Kaffee. Später stoppt ein Wagen, der für hiesige Verhältnisse zu klein ist, darin ein Mann, dessen Haare eher zu lang sind. Ein Architekt? Ein Komponist? Ein Psychologe? Er wirkt ehrlich erschüttert, als er uns durch das Seitenfenster fragt: »Hilft euch Geld?« Er reicht uns einen Schein heraus – wieder sind es 20 Euro –, fährt davon, kommt zurück mit einer Tüte Obst und sagt flehend: »Hier hilft euch keiner. Bitte, bitte fahrt nach Frankfurt.«

Am Abend setzen wir uns vor die Einfahrt zum Hotel Falkenstein Kempinski, auf dessen »Skyliner-Terrasse« gleich das Whisky-Dinner beginnen soll. An unseren Knien lehnt ein Pappschild:

OBDACHLOS + SCHWANGER

HELFEN SIE UNS?

Hilft der Wink mit dem Laternenmast?

Wir winken jetzt nicht mehr mit dem Zaunpfahl, sondern mit einem Laternenmast! Wir klingeln auch nicht mehr, sondern machen ein echt »niederschwelliges Angebot«, wie das im Geschäftsdeutsch heißt.

Mittlerweile sehnen wir sogar herbei, was wir bislang gefürchtet haben: Sicherheitsleute. Polizeikontrolle. Erklärungsnöte bestenfalls.

Wieder und wieder fahren Autos vor. Die Lichtkegel ihrer Scheinwerfer gleiten über uns hinweg, leuchten uns aus wie auf einer Kleinkunstbühne, ziehen vorüber – und lassen uns im Dunklen sitzen.

Nichts geschieht.

Haben wir noch immer nicht genug provoziert – oder zu dick aufgetragen? Fürchten sich seit unserem Auftauchen alle vor einer versteckten Kamera? Haben sie uns durchschaut und sich in Telefonketten gegenseitig vorgewarnt? Oder haben sie hier so viel Hornhaut auf der Seele, dass man sie noch nicht mal ärgern kann?

Seit 2000 Jahren wird diese alte Geschichte erzählt: ein Paar auf Herbergssuche. Nahezu jeder Erwachsene dürfte als Kind im Krippenspiel einmal Maria oder Josef gewesen sein, Hirte, Herbergsvater oder wenigstens ein Schaf. An jedem Weihnachtsfest laufen wir in die Kirche, singen Wer klopfet an? oder Ihr Kinderlein kommet und seufzen vor Selbstzufriedenheit. Aber was, wenn Maria und Josef mehr sind als Feiertagsfolklore?

Damals, in Bethlehem, lief es auch nicht gerade blendend – und das wäre längst vergessen, wenn ein stinknormales Paar von allen abgewiesen worden wäre. So aber, vom Ende der Geschichte her betrachtet, stehen die Herbergswirte ziemlich übel da.

Wir waren nicht so naiv, zu glauben, dass uns irgendein Vorstandsvorsitzender sein Kingsize-Bett aufschüttelte. Wir wären ein scheinheiliges Paar, wenn wir uns ein einfaches Urteil anmaßen würden über die Tatsache, wieder und wieder abgewiesen worden zu sein. Aber über den Ton, in dem das meistens geschah? Und über dieses verbissene Schweigen?

Dieses Wandlitz des Westens, es kommt ohne Zäune und Schlagbäume aus. Es riegelt sich ab mit Ignoranz. Souveräner kriegt man Abschottung nicht hin.

Wie soll das erst werden, wenn die Krise kommt und mit ihr neue Arbeitslosigkeit? Wenn sich die Gerechtigkeitsfrage noch drängender stellt?

Natürlich haben Kronberg und Königstein das Pech, Synonyme zu sein. Wie Sylt und Sankt Moritz. Dabei gibt es nicht nur Millionäre hier, sondern auch Menschen, die in »Geschosswohnungsbauten« leben. Genau jene waren es, die uns am menschlichsten erschienen: eine Bäckerin. Ein Pfarrer. Eine Rezeptionistin. Ein Gärtner. Die Hilfskräfte und Hoflieferanten im deutschen Wolkenkuckucksheim.

Es wird nicht richtig hell am Sonntag, dem zweiten Advent, an dem unser Experiment zu Ende geht, dieser ernst gemeinte Spaß, dieser oberflächliche Undercover-Einsatz. Anders als der wandernde Schriftsteller Holzach wären wir im Taunus nicht verhungert, eher satt erfroren, hätten wir’s darauf angelegt.

In Kronberg ruft Glockengeläut zum Gottesdienst. Was der Pastor wohl predigen wird?

Wir wandern zum Schlosshotel hinauf, nicht mehr Victorias Witwensitz, sondern »Germany’s Leading Resort« in Besitz des Landgrafen und der Prinzen von Hessen. Hier werden Knigge-Kurse für Kinder angeboten. In der Bar hängt ein Originalgemälde William Turners. Und falls ein Gast 700 Euro zahlt, wird ihm in der Royal Suite das Bett von Kaiser Wilhelm II. bezogen. Wir wollen nur einen Kaffee trinken – und bezahlen.

Die Straße zum Hotel hat keinen Bürgersteig. Hier läuft man nicht, hier fährt man vor. Wie ein zerklüfteter grauer Fels steht das Schloss auf dem Golfplatz. Es scheint von innen zu glühen, Kronleuchter strahlen. Heute ist ein besonderer Tag: Ein Kronberger Ehepaar – er ist Manager bei der Rating-Agentur Standard & Poor’s – hat zum Charity-Konzert geladen, wie jedes Jahr. Die Söhne und Töchter der Stadt werden Cello spielen, Geige und Klavier. Das Geld geht an erblindete Kinder in Bangladesch.

Es gibt zahllose Charity-Zirkel in Kronberg, aufwendig inszeniert und dokumentiert. Im Internet finden sich Bilder von Vorstandschefs in karger Krankenhauskulisse und Managern mit dunkelhäutigen Babys auf dem Arm. Die Konkurrenz scheint so groß zu sein, dass man schon Mehrfachbetroffenen helfen muss, um überhaupt aufzufallen. Nur Kinder in Bangladesch reichen nicht, sie müssen auch noch blind sein. Indirekte Hilfe wird bevorzugt – also verbunden mit Festlichkeit und Spenden nach möglichst weit weg. Bangladesch, Sri Lanka, Peru. Wer sich in die Nähe wagt, würde sich statt Dankbarkeit womöglich eine Verteilungsdebatte einfangen. So aber bleibt’s bei einem schönen Foto mit Riesenscheck.

»Das Tolle an Charity scheint zu sein«, sagt Viola, »dass alle sehen: Man macht Charity.«

Heute gibt es dieses gute Gefühl schon zum Eintrittspreis von 35 Euro.

Mit Sack und Pack treten wir ein. Im Foyer hilft ein Page den Gästen aus ihren Mänteln. Überall Kellner, mit jedem Schritt auf spiegelndem Marmor um Würde bemüht. In einer Vitrine ein Füller von Faber-Castell für 3200 Euro. Klingen von Gläsern. Freudiges Gemurmel. Viel Haut. Viel Anmut. Viel Schwarz. Viel Weiß. Und dazwischen plötzlich wir, die poor, direkt vorm Weihnachtsbaum. Gesichtsmuskeln, auf zig Empfängen auf Contenance trainiert, geraten außer Kontrolle. Getuschel. Gezischel. Endlich einmal trennt uns keine Tür, kein Zaun, keine Windschutzscheibe von den Studienobjekten! Wir suchen nach bekannten Gesichtern, nach den Koppers, Ackermanns und Blessings. Aber dazu bleibt keine Gelegenheit, nach dreißig Sekunden ist der Manager on Duty da, ein junger Mann mit alter Guttenberg-Frisur und tadellosen Türstehermanieren. Mit der Showtreppen-Eleganz eines Entertainers schiebt er uns durch ein schweigendes Spalier ins Freie.

»Das ist wirklich unpassend heute«, sagt er mit hochgezogenen Augenbrauen. »Wir haben hier nämlich eine Wohltätigkeitsveranstaltung.«

Draußen im Regen schauen wir uns um. Wie konnten wir das nur vergessen.

Mitarbeit: Amrai Cohen und Caterina Lob

Der Beitrag ist zuerst erschienen in der ZEIT-Ausgabe Nr. 52 (22.12.2011) und auf ZEITonline

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