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Sozialpolitik: Hartz IV: Mit Abstand betrachtet

Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat nachgerechnet. Und sein Ergebnis ist eindeutig: Wer in Deutschland einer Vollzeitbeschäftigung nachgeht, hat mehr Geld in der Tasche als Hartz-IV-Bezieher – selbst dann, wenn sein Job nicht besonders gut bezahlt wird. Trifft das für alle zu?

Von Lutz Haverkamp

Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat nachgerechnet. Und sein Ergebnis ist eindeutig: Wer in Deutschland einer Vollzeitbeschäftigung nachgeht, hat mehr Geld in der Tasche als Hartz-IV-Bezieher – selbst dann, wenn sein Job nicht besonders gut bezahlt wird.

Mit seinem Gutachten platzt der Wohlfahrtsverband mitten in die vom FDP- Chef und Vizekanzler Guido Westerwelle angezettelte Debatte um die Treffsicherheit des Sozialstaats. Westerwelle bringt seit Wochen seine politischen Gegner mit dem Mantra „Leistung muss sich lohnen. Und wer arbeitet, muss mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet“ gegen sich auf. Selbst Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ließ den FDP-Chef wissen, dass er weder ein Tabu gebrochen noch einen sonderlich konstruktiven Lösungsvorschlag geliefert hätte.

Die Studie vom Paritätischen Wohlfahrtsverband untermauert das nun mit Zahlen. In insgesamt 196 Fallbeispielen rechnet der Verband vor, dass für Hartz-IV-Bezieher selbst bei Löhnen von unter sechs Euro in der Stunde noch ein Anreiz zur Arbeitsaufnahme besteht. Je nach Haushaltstyp beträgt der Abstand zwischen Nichtarbeit und Beschäftigung zwischen 260 und 900 Euro. Eine besondere Rolle spielen dabei das Wohngeld und der Kinderzuschlag, die häufig ein Aufstocken durch Hartz IV überflüssig machen. Anders kann es in einem Paarhaushalt mit nur einem Verdiener im Niedriglohnbereich aussehen: Dann könnte ein zusätzlicher Hartz-IV-Bezug nötig sein.

„Wer arbeitet, muss mehr haben als der, der nicht arbeitet. Diese Forderung wird so lautstark und so penetrant wiederholt, bis auch der Letzte das Gefühl bekommt, in Deutschland lohne es sich nicht mehr zu arbeiten“, sagt Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, bei der Vorstellung des Gutachtens in Berlin. Ja, sogar einen sozialstaatlichen Paradigmenwechsel wolle man, da das Leistungsprinzip mit Füßen getreten werde. Wer das behaupte, schiebt Schneider aber hinterher, täusche schlicht die Öffentlichkeit. Der Lohnabstand zwischen Erwerbstätigen und Nichterwerbstätigen sei in jedem Fall durch ergänzende Leistungen wie Wohngeld oder Kinderzuschlag gewahrt. Dies sei zuletzt in „äußerst dubiosen Rechenbeispielen“ unterschlagen worden.

„Es drängt sich der Verdacht auf, dass hier mit falschen, weil unvollständigen Berechnungen Klima und Politik gemacht werden sollen. Es werden Einkommensberechnungen vorgelegt, wohl wissend, dass sie mit der Realität nichts zu tun haben“, ereifert sich Schneider. „Was in den letzten Wochen an Zahlen in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, grenzt an bewusster Irreführung.“

Für 196 Beispiele rechnet das Gutachten vor, dass es bei Bruttogehältern zwischen etwa 1100 und 2500 Euro im Monat immer lohnend ist, arbeiten zu gehen, anstatt allein von Hartz IV zu leben. Und das unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer allein lebt und erzieht, verheiratet ist oder bis zu drei Kinder im Haushalt leben. „Unsere Berechnungen weisen Einkommensabstände von bis zu 56 Prozent beziehungsweise bis zu 900 Euro aus“, erklärt Schneider. Selbst bei sehr schlechter Entlohnung werde bei Vollerwerbstätigkeit immer eine Einkommensdifferenz von mindestens 260 Euro, meist aber deutlich mehr erreicht.

Die größten finanziellen Vorteile durch eine Vollbeschäftigung hat der Studie zufolge ein Alleinstehender (West) ohne Kinder. Bei einem Bruttogehalt von 2551 Euro verbleiben ihm nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben 1613 Euro verfügbares Einkommen im Monat. Bliebe er ohne Erwerbseinkommen daheim, müsste er mit 710 Euro Hartz IV auskommen – ein Unterschied von 903 Euro oder 56 Prozent. Eher Grund zum Klagen haben Ehepaare mit mehreren Kindern im Osten. Dort beträgt der Abstand zwischen verfügbaren Einkommen und Hartz IV in den niedrigen Lohngruppen oftmals nur zwölf Prozent.

Eine Ungerechtigkeit sieht der Paritätische Wohlfahrtsverband ganz woanders: „Ob allerdings Stundenlöhne bis zu unter sechs Euro noch irgendetwas mit einem wie auch immer gearteten Leistungsprinzip zu tun haben, geschweige denn mit irgendeinem Gerechtigkeitsideal, muss klar verneint werden“, sagt Schneider. Die Forderung des Verbandes ist denn auch klar: „Was diese Menschen brauchen, ist mehr Lohn, ein verbesserter Kinderzuschlag und mehr und bessere Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder.“

Für die jetzt anstehende Debatte um eine Steuerentlastung im Volumen von rund 20 Milliarden Euro, die vor allem von der FDP gefordert wird, hält Schneider auch gleich eine weitere Warnung bereit. „Wer behauptet, eine Senkung der Einkommensteuer könne den Einkommensabstand zwischen Hartz-IV-Beziehern und Erwerbstätigen in unteren Lohngruppen vergrößern, wer behauptet, mit einer Senkung der Einkommensteuer könnten zusätzliche Anreize für Hartz-IV-Bezieher zur Aufnahme auch schlecht entlohnter Tätigkeiten geschaffen werden, täuscht die Öffentlichkeit – ob willentlich oder in Unkenntnis.“ In der Mehrheit bestünden diese Haushalte aus alleinerziehenden Frauen und einkommensschwachen Familien mit mehreren Kindern. Diese Haushalte zahlten schon jetzt keine oder kaum Einkommensteuer, erklärt Schneider und folgert: „Ihnen hilft deshalb auch keine Steuerreform.“

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