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Sozialstaat: Westerwelles Sittenbild

Guido Westerwelle provoziert, ein ums andere Mal. Jetzt mit dem Ruf nach einem neuen Sozialstaat. Wie treffsicher sind seine Thesen?

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Außenminister Guido Westerwelles Vergleich von Hartz-IV-Empfängern mit „spätrömischer Dekadenz“ verärgert Politiker der Opposition. Aber auch die Union reagiert gereizt, und Kritik kommt auch aus seiner eigenen Partei. Was hat der FDP-Chef gesagt – und wie sind seine Argumente zum Sozialstaat, der „treffsicherer“ werden müsse, einzuordnen?

DIE MITTELSCHICHT SCHRUMPFT

Mit seiner Äußerung, kleine und mittlere Einkommen dürften nicht länger „die Melkkühe der Gesellschaft“ sein, zielt Westerwelle auf die breite Masse der Bevölkerung. Denn als Mittelschicht sehen sich die meisten – viele Niedrigverdiener tun das sogar, ohne dass ihre Einkommen eigentlich zu den mittleren Einkommen zählen. Und die breite Mitte hat sich noch immer als das Rückgrat der Gesellschaft gesehen. Aber schrumpft diese Mitte auch, wie er es behauptet? Gehen deren Einkommen wirklich zurück?

Der Soziologe Johannes Giesecke vom Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) warnt davor, die Entwicklung überzubewerten. Zwar könne man ausgehend von den Einkommen in der Tat ein leichtes Schrumpfen der Mittelschicht feststellen, aber die Situation sei weniger dramatisch als oft dargestellt. „Deutschland hat gegenwärtig kein Problem mit einer schrumpfenden Mittelschicht, sondern mit einer Gruppe von Ausgeschlossenen, die keinen Zugang mehr zum Arbeitsmarkt finden und erst gar keine Chance haben, Mittelschicht zu werden“, betont Giesecke. Gewachsen sei freilich die Angst vor Abstieg in dieser Mittelschicht – „ein schillernder Begriff“ –, aber diese Angst sei stärker als das wirkliche Risiko etwa vor längerer Arbeitslosigkeit. Giesecke bestätigt jedoch ein Gefühl vieler Mittelverdiener: Die Realeinkommen (also die inflationsbereinigten Einkommen) seien in den vergangenen Jahren gesunken, allerdings sei auch die Inflationsrate nach 2005 etwas höher gewesen.

Der WZB-Soziologe weist aber auch auf eine Entwicklung hin, die nicht so häufig gesehen wird. Gerade die innerbetrieblichen Aufstiegsmöglichkeiten hätten deutlich abgenommen. Gut möglich also, dass sich in der Mittelschicht ein Gefühl enttäuschter Karriereerwartungen stärker breitmacht, als es ein oder zwei Generationen zuvor der Fall war. Eine Rolle dürfte auch spielen, dass sich die Einkommen von Angestellten und Beamten auseinanderentwickeln – vor allem wegen der Sozialabgaben, die gerade die Angestellten treffen. Die Einkommenszuwächse im öffentlichen Dienst, etwa beim Verwaltungspersonal und der Polizei, lagen seit 1990 deutlich über dem Schnitt.

Insgesamt muss die Mittelschicht aber sehr differenziert gesehen werden. Es gibt eindeutige Aufsteigergruppen (etwa im Marketingbereich), aber auch Verlierer. Das zeigte jüngst eine Gegenüberstellung von Monatsverdiensten in verschiedenen Berufen zwischen 1990 und 2006 in der Zeitschrift „Stern“, basierend auf einer Langzeiterhebung. Die bestätigte, was so mancher ältere Angestellte erfahren hat und was jüngere Angestellte wissen: In manchen Berufen wird heute kaum besser verdient als vor 20 Jahren, in manchen sogar deutlich schlechter, und die Einstiegsgehälter in vielen Berufsgruppen sind gesunken. Die Jüngeren der Mittelschicht können oft nicht mehr mit dem Einkommenszuwachs rechnen wie noch die Generation zuvor. Vor allem die qualifizierten Angestellten und gut verdienenden Facharbeitern mussten bei den Nettoeinkommen oft deutliche Abschläge hinnehmen. Hier wirkt sich vor allem die „kalte“ Progression aus: Zwar wächst das Einkommen, aber noch mehr die Steuer- und Abgabenlast, die immer mehr vom Gehaltsplus auffrisst. Allerdings war das Minus bei Geringverdienern im Schnitt größer als in der Mittelschicht – durch den Niedriglohnsektor, der in Deutschland in den vergangenen Jahren stetig gewachsen ist.

ARBEIT LOHNT SICH HÄUFIG NICHT MEHR

Wer arbeitet, wird nach Ansicht des FDP- Chefs mehr und mehr zum „Deppen der Nation“. Mit seiner Kritik zielt Westerwelle unter anderem auf das Lohnabstandsgebot, wonach jemand, der vom Staat Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe erhält, weniger Geld bekommen soll als jemand, der einen Job hat. Arbeit müsse sich lohnen, argumentieren Ökonomen, sonst gebe es keinen Anreiz für die Menschen, eine Beschäftigung anzunehmen.

In der Tat gibt es in Deutschland Berufe, in denen sehr geringe Löhne gezahlt werden – vom Friseurhandwerk bis zur Bäckereiverkäuferin. Bei Stundenlöhnen von vier Euro ist es schwer, Hartz-IV-Niveau zu erreichen. Wer mit seinem monatlichen Verdienst unterhalb des Existenzminimums liegt, kann allerdings ergänzend Arbeitslosengeld II beantragen und hat damit monatlich zumindest nicht weniger Geld zur Verfügung als jemand, der Hartz IV bezieht. Inzwischen gibt es bundesweit mehr als eine Million „Aufstocker“. Doch nicht all diese Personen beziehen Arbeitslosengeld II, weil ihre Vollzeitlöhne so gering sind – ein Teil arbeitet in Teilzeit oder auf 400-Euro-Basis.

Bei Geringverdienern muss zudem berücksichtigt werden, dass diese zum Teil staatliche Unterstützung erhalten: Wohngeld und eventuell Kindergeld oder den Kinderzuschlag. Letzterer soll an Familien gezahlt werden, die nur durch ihre Kinder in Abhängigkeit von Hartz IV abrutschen und kann bei zwei Kindern bis zu 280 Euro im Monat ausmachen. Diese Leistungen führen dazu, dass die „verheiratete Kellnerin mit zwei Kindern“, von der Westerwelle spricht, eben nicht unbedingt 109 Euro weniger im Monat zur Verfügung haben muss, als wenn sie Hartz IV bezieht. Bei Hartz IV wird – anders als bei Geringverdienern – das Kindergeld nämlich angerechnet.

Wer dem Volk „anstrengungslosen Wohlstand“ verspreche, lade zu spätrömischer Dekadenz ein, kritisiert Westerwelle. Falls er Hartz-IV-Empfänger gemeint haben sollte, ist das Bild schief: Wer Arbeitslosengeld II beantragt, darf weder einen gut verdienenden Partner noch ein größeres Vermögen haben. Und wer einen zumutbaren Job (mehrmals) ablehnt, kann die Leistung gekürzt bekommen.

IN DEUTSCHLAND HERRSCHT GEISTIGER SOZIALISMUS

Westerwelle und der Sozialismus – in der jüngeren Geschichte der politischen Rhetorik kein unbekanntes Paar. Bereits als Generalsekretär der FDP und verstärkt als Oppositionsführer nutzte er den Vergleich mit dem Sozialismus immer dann, wenn er zur Beschreibung eines gesellschaftlichen Zustandes oder einer Entwicklung ein möglichst aufschreckendes Feindbild produzieren wollte. Und zwar eines, das bei seinen Anhängern sofort verfängt. Im Sozialismusvergleich, könnte man sagen, gipfelt Westerwelles Populismus. Denn zum einen wird niemand, der (anders als das Bonner Kind Westerwelle) im Sozialismus aufgewachsen ist, die in Deutschland herrschende Gesellschaftsordnung mit den Regimen Ulbrichts und Honeckers ernsthaft in Verbindung bringen. Und zum anderen geht es Westerwelle nur um den öffentlichkeitswirksamen Auftritt, etwas verändern will er nicht. So ist es auch jetzt wieder: Denn im Sozialismus hatte der, der arbeitete, mehr als der, der nicht arbeitete (anders, als es Westerwelle insinuiert). Und so war es vor einem Jahr, als die große Koalition beim Versuch, das deutsche Bankensystem vor dem Zusammenbruch zu retten, ein Enteignungsgesetz verabschiedete. Das sei ein Vorbote für den „schleichenden Sozialismus“, quasi eine „DDR light“, und das Finanzministerium werde zu einer „Enteignungsbehörde“.

Westerwelle will Ressentiments bedienen. Und das tut man in der Politik am wirksamsten mit schrillen Tönen. Psychologen halten die Sozialstaatsschelte für parteitaktisch clever. „Westerwelle bedient geschickt die Stammwähler der FDP mit ihrem Selbstbild“, sagte der Experte für politische Psychologie an der Universität Hamburg, Thomas Kliche, der Nachrichtenagentur ddp. Er liefere „Meisterwerke der Klientel-Rhetorik“. In dieser Hinsicht sei Westerwelle der Beste seit Franz Josef Strauß.

ES GIBT EINE SCHWEIGENDE MEHRHEIT

Wäre der FDP-Chef der Wortführer der (schweigenden) Mehrheit, hätte die Partei im Herbst 2009 nicht knapp 15, sondern mindestens 51 Prozent erreichen müssen. Psychologisch richtig ist der Ansatz aus seiner Sicht dennoch. Denn gerade sozialstaatskritische FDP-Anhänger brauchen das Gefühl, im Interesse einer für Deutschland guten Sache zu handeln.

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