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Kirschblüte in Shanghai, China

© REUTERS/Aly Song

Soziologe Hartmut Rosa über Covid-19: "Das Virus ist der radikalste Entschleuniger unserer Zeit"

Das unkontrollierbare Coronavirus verunsichert die Menschen weltweit, meint der Soziologe Hartmut Rosa. Doch in der Krise liegt auch eine Chance. Ein Interview.

Hartmut Rosa ist einer der führenden deutschen Soziologen und Zeitforscher. Er wurde bekannt mit seiner Theorie der modernen Beschleunigung. Der 54-Jährige lehrt Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und ist Direktor des Max-Weber-Kollegs der Universität Erfurt.

Herr Professor Rosa, Sie schreiben in Ihren Büchern über die soziale Beschleunigung in der Moderne. Wie wirkt sich die Corona-Pandemie darauf aus? 
Das Virus ist der radikalste Entschleuniger, den wir in den letzten 200 Jahren erlebt haben. Es gab immer mal wieder solche Momente, etwa nach dem 11. September oder nach dem Vulkanausbruch in Island. Da wurde vorübergehend der Luftverkehr eingestellt. Das waren partielle Entschleunigungen, das öffentliche Leben war nicht betroffen. 

Es ist historisch beispiellos, dass die Moderne, die permanent von Beschleunigung lebt, sich jetzt selbst so radikal entschleunigt. Es ist, als hätte sie gewaltige Bremsen angelegt. Das eigentlich Faszinierende ist, dass wir uns diese Bremsen selbst anlegen. Es ist ja nicht so, dass das Virus unsere Flugzeuge zerfrisst. Wir schränken uns selbst als Vorsichtsmaßnahme ein - das ist schon sehr bemerkenswert. 

Der Soziologe Hartmut Rosa über die Zwangsentschleunigung durch die Coronavirus-Pandemie.
Der Soziologe Hartmut Rosa über die Zwangsentschleunigung durch die Coronavirus-Pandemie.

© Martin Schutt / dpa

Was machen diese Einschränkungen mit den Menschen?
Für uns ist nun vieles unverfügbar geworden, was wir noch vor Kurzem für selbstverständlich hielten: Geschäfte haben geschlossen, Veranstaltungen fallen aus. Das führt dazu, dass unsere Weltreichweite massiv schrumpft, sowohl zeitlich als auch räumlich. 

[Epidemiologe warnt vor noch schärferen Maßnahmen: „Gibt keinen Grund, das ganze Land in häusliche Quarantäne zu schicken“]

Meine These ist, dass wir es immer darauf anlegen, unsere Weltreichweite zu vergrößern: immer schneller, weiter. Im Moment schrumpft die räumliche Reichweite für die allermeisten Menschen auf die Wohnung. Und auch zeitlich weiß keiner, wie es in ein oder zwei Wochen aussieht.Das Virus ist der Inbegriff einer monströsen Unverfügbarkeit.

Können Sie das genauer erklären?
Wir versuchen unsere Welt komplett kontrollierbar, vorhersehbar, erreichbar zu machen. Komischerweise hat dieser Versuch die Tendenz, die Unverfügbarkeit monströs wiederkehren zu lassen. Das erleben wir gerade mit dem Virus. Es ist neu, wir wissen nicht genau, wo es herkommt, wie es sich verhält, wie wir es medizinisch in den Griff bekommen.

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Wir können es politisch nicht steuern, rechtlich nicht regulieren und es hat wirtschaftlich unvorhersehbare Konsequenzen. Wir können es nicht sehen, nicht hören, nicht riechen. Es entzieht sich unserer Alltagswahrnehmung. Und die Gesellschaft reagiert so, wie man es erwarten könnte. Sie versucht, die Verfügbarkeit krampfhaft wiederherzustellen.

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Inwiefern?
Das Virus soll unbedingt unter Kontrolle sein. Dafür nimmt die Gesellschaft sogar die massive Entschleunigung in Kauf. Das ist ganz spannend und jeder kann es an sich selbst beobachten. Ich glaube, wir sind gerade in einem gigantischen Experiment. Es verkürzt auf völlig unvorhergesehene Weise die Weltreichweite in der physischen Welt. 

Sind die vielen Hamsterkäufe Versuche, die Weltreichweite zu erhalten?
Das könnte man so sagen. Mit der Weltreichweite möchten wir Dinge verfügbar haben. Jetzt sehen die Menschen eine Bedrohung. Also wollen sie sicherstellen, dass grundsätzliche Dinge verfügbar sind, falls etwas passiert. Wir waren uns bislang sicher, dass es im Laden genug Klopapier gibt. 

Jetzt gibt es diese Ungewissheit, dass der Laden vielleicht morgen zu hat. Wir machen die Erfahrung, dass eben nicht alles verfügbar ist und wir müssen jetzt lernen, damit umzugehen. Aber wir sind zurzeit immer noch in dem Modus, den wir gewohnt sind.

Wie meinen Sie das?
Man könnte es als Hamsterradmodus bezeichnen, in dem wir immerzu die To-Do-Listen abarbeiten müssen. Und dieser Habitus mit „Ich muss nochmal schnell dahin, ich muss nochmal schnell dorthin“, den können wir in dieser Krise physisch nicht mehr ausleben, digital aber schon. Wir sagen: Ich muss hier was posten und dort, was sagen eigentlich die Nachrichten, die Statistiken. Wir beschleunigen weiter in der digitalen Welt, sogar verstärkt.

Wie wirkt sich diese Verschiebung der Beschleunigung in die digitale Welt aus? Fehlt auf Dauer nicht der Kontakt zu anderen Menschen?
Das würde ich schon sagen. Die große Frage ist: Können Videokonferenzen oder soziale Medien reale Kontakte ersetzen? Ich glaube, es ist wichtig, solche Möglichkeiten zu haben. Aber diese Art der Kommunikation scheint nicht die gleiche Qualität zu haben wie physische Kontakte. 

Deswegen glaube ich schon, dass Menschen momentan Defiziterfahrungen haben, sogenannte Entfremdungserfahrungen. Entfremdung ist eine Störung in unserer Beziehung zur Welt. Und die können wir jetzt kollektiv wahrnehmen. Wir bauen ein Misstrauen auf. Die Türklinken, das Geländer, all das könnte verseucht sein. Man darf Menschen nicht mehr umarmen, wir misstrauen ihnen. Die Weltbeziehung ist dadurch gestört. 

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Und wie können wir damit umgehen?
Es gibt zwei Möglichkeiten. Die eine ist: Alles wieder in Kontrolle zu bringen, in alle sozialen Medien flüchten. Hier was posten und dort was posten. Das ist das, was wir normalerweise tun: kontrollieren, verfügen, optimieren. Der zweite Modus ist, dass wir wieder auf uns und auf die Welt hören. 

Ich glaube, wir sollten individuell und kollektiv versuchen, in diesen zweiten Modus zu kommen. Wir sind in dieser neuen Situation mit uns selbst in unserem Haus oder in der Wohnung, vielleicht mit der Katze – mit unserem Leben. Es kann eine Chance sein, dass dadurch neue Muster des Zusammenseins entstehen. 

Ein Beispiel ist das Musizieren auf den Balkonen, wie es in Italien stattfindet. Wir finden eine neue Weise des In-der-Welt-Seins. In der gesellschaftlichen Krisensituation liegt daher vielleicht auch eine Chance. 

Wie schafft es die Gesellschaft, in diesen zweiten Modus zu gelangen?
Ich habe ja am Anfang  gedacht: So eine Zwangsentschleunigung ist super. Aber offensichtlich kommen wir eben doch nicht so schnell aus unserem Hamsterradmodus heraus. Vielleicht spielt sich das mit der Zeit ein. Zurzeit ist der Blick auf die Nahwelt gerichtet. 

Plötzlich guckt man intensiv aus dem Fenster und sieht die ersten Blüten oder man nimmt die Nachbarn wieder intensiv wahr. Ich nenne das Resonanz, ein Modus des Hörens und Antwortens. Meine Hoffnung, dass es vielleicht auch ein Moment des kollektiven Innehaltens sein kann und wir jetzt über die Art und Weise nachdenken, wie wir uns in der Welt bewegen. 

Die Menschen sollen sich so viel wie möglich in der Wohnung aufhalten und soziale Kontakte vermeiden. Wieso halten sich so viele nicht daran?
Ich glaube, dass das Problem ist, dass wir eigentlich gar nichts von dem Virus bemerken. Die allerwenigsten Menschen haben in ihrem Umfeld wirklich kranke Menschen. Man nimmt keine existenzielle Krise physisch wahr. Und das macht es schwer, direkte Kontakte als schlecht zu begreifen. 

Menschen sind ja auch auf Kontakte geeicht. Soziale Beziehungen sind eine der vier Achsen der Resonanzbeziehungen. Die fällt jetzt weg, weil wir uns nicht mehr umarmen oder treffen können. Diese Krise gibt uns allerdings die Chance, die anderen drei Resonanzachsen wieder zu entdecken.

Die eine ist die Beziehung zu Dingen, etwa zum Klavier oder Pinsel. Dann gibt es noch die Achse der existenziellen Sphären, also Kunst, Natur, Religion. Und die letzte Achse ist die Selbstachse: sich selbst zuspüren, wahrzunehmen. Die Entschleunigung wirkt sich auch auf die Natur aus. Die Kanäle in Venedig sind wieder klar, die ersten Delfine wurden vor Sardinien gesichtet. 

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Können wir aus diesen Veränderungen nicht etwas Positives für die Zukunft ziehen?
Ich bin da skeptisch. Delfine vor Sardinien werden dazu führen, dass Leute nach Sardinien fahren, um die Delfine zu sehen. Das ist genau dieser Modus, dass man Dinge erreichbar und verfügbar machen will. Das kann man nicht einfach so außer Kraft setzen. Wir können ja unmittelbar sehen, wie der Klimawandel die Welt verändert. 

Und es hat bisher Null Effekt darauf, wie wir leben und handeln. Ich bin auch deswegen skeptisch, weil wir diesen Steigerungszwang haben. Die institutionelle Logik der Gesellschaft ist so, dass sie das, was sie hat, also Renten,Gesundheit, Einkommen, Arbeitsplätze, nur erhalten kann, wenn sie sich permanent steigert. Wir können daher jetzt nicht einfach sagen: Es ist genug. 

Warum glauben Sie das?
Ich denke, das würde in eine Krise führen. Deswegen ist ja die große Unbekannte momentan, nicht nur wie wir als Menschen leben wollen, sondern auch wie wir das institutionell hinkriegen. Die ökonomische Seite wird da eine entscheidende Rolle spielen. Ich erwarte erstmal eine riesige ökonomische Krise. 

Vermutlich wollen wir danach das Wachstum wieder ankurbeln. Leute sollen konsumieren, Geld ausgeben, produzieren – zurück in die Beschleunigung. Aber vielleicht gibt es doch eine Hoffnung, dass es ein Umdenken gibt. Wir sollten die Krise nicht nur als Zwangsentschleunigung erleben, sondern vielleicht auch als kollektives Innehalten.

Hätten Sie gedacht, dass so eine globale Entschleunigung möglich ist?
Ich bin selbst überrascht als Soziologe, dass alle meinen Themen nun auf dem Tisch liegen. Die Entschleunigung ist derart manifest auf dem Tisch, wie keiner es sich hätte träumen lassen. Ich finde vor allem diese monströse Unverfügbarkeit interessant. Plötzlich kommt da dieses Virus, das wir nicht im Griff haben. Das führt zu einer Störung der Weltbeziehung, zur Entfremdung. 

Es ist nur schwer zu sagen, was dabei herauskommt und was es mit uns macht. Meine Hoffnung am Anfang war, dass diese Zwangsentschleunigung eine super Erfahrung ist. Aber wenn ich mit anderen Menschen rede, dann merke ich, es fühlt sich bei Weitem nicht so gut an.

Elena Matera

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