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Politik: Späte Revolution

Von Christoph von Marschall

Man muss in diese Gesichter schauen: voller Zuversicht, ohne Angst. Ausgelassen ist die Freude nicht, eher ernst und erhaben, als seien sich die Hunderttausende bewusst, dass der gute Ausgang ihrer Massenproteste nicht gewiss ist. Und doch verleiten diese Bilder zu großen Gefühlen, weil sie große Erinnerungen wachrufen: an das friedliche Ende der kommunistischen Diktaturen, vor 15 Jahren in Polen, Ungarn, der DDR, der Tschechoslowakei; vor 13 Jahren in Moskau, wo mutige Bürger Gorbatschows Perestrojka gegen die Panzer der Putschisten verteidigten. An den Sturz Slobodan Milosevics im Oktober 2000 in Belgrad und den Machtwechsel in Georgien auf den Tag genau vor einem Jahr, beide nach gefälschten Wahlen. Die Bilder, die jetzt aus Kiew und Lemberg zu uns dringen, meinen wir zu kennen. Die Hoffnungen, die sie wecken, haben zwar bei den Massakern an den Demokratiebewegungen in China oder Birma getrogen, nicht aber in der neuen Ära nach 1989 in Mittel und Osteuropa.

Wenn Völker so aufbegehren gegen dreiste Manipulationen – das sind Sternstunden der Menschheit, des Drangs nach Freiheit und Selbstbestimmung. Ja, dies sind große Worte mit etwas viel Pathos. Und was, wenn sie in blutiger Gewalt untergehen? Aber für den Moment haben die Ukrainer Kraft und Mut gefunden, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Diese Revolution kommt spät, gemessen an den Nachbarn: Polen, Slowaken und Ungarn im Westen, selbst den Russen im Osten. Aber dieses Volk kannte über Jahrhunderte keine Souveränität, tat sich schwer mit dem Aufbau eigener Eliten. Sein Name belegt, dass es stets „an der Grenze“ lebte, zwischen Ost und West, im Gravitationsfeld mächtiger Reiche. Auch heute ist jede Regierung in Kiew abhängig von Moskaus Öl und Gas, kann der wirtschaftlichen Verflechtung nicht entkommen. Insofern ist die Interpretation übertrieben, dieser Wahlausgang entscheide, ob die Ukraine in den Westen überläuft oder in den Machtbereich des Kreml zurückfällt. Nachdem Moskau die Satellitenstaaten der Ostblockzeit verloren hat, erhält die Ukraine ein besonderes Gewicht. Durch die Kontrolle über sie ist Russland europäische Großmacht.

Sich ganz für den Westen entscheiden, das kann die Ukraine nicht – aber allein für den Osten, das geht nun auch nicht mehr. Anders als in Serbien oder Georgien geht es bei den Protesten nicht nur um den Konflikt zwischen „Demokratiebewegung“ und alten Kadern samt Wirtschaftsoligarchen, zwischen Stadt und Land. Hinzu kommt der Gegensatz zwischen der Westukraine, die so lange vom katholischen Polen geprägt war, und der Ostukraine, die sich an Russland anlehnt.

Selbst wenn Juschtschenko, der „Westler“, sich durchsetzt, wird er es ungleich schwerer haben als die Sieger der Revolutionen anderswo. Und schon die landeten rasch im Katzenjammer – weil ihre bunt zusammengewürfelten Bewegungen sich zerstreiten, weil ihre Führungen kaum Regierungs- und Verwaltungserfahrungen haben und die hohen Erwartungen der Bürger auf rasche Besserung ihres Alltags nicht erfüllen können. Der Ukraine stehen schwere Jahre bevor, selbst wenn jetzt das Volk über die Diktatur siegt. Das Pathos der Revolution wird bald in Enttäuschung münden. Und doch muss man dem Land diese Entwicklung wünschen, die nur kurz süß und dann sehr lange bitter schmeckt. Weil es der einzige Weg ist, damit demokratische Machtwechsel normal werden. Heute kann das Land glücklich sein, weil es Helden hat. Auf Dauer nur, wenn es keine Helden nötig hat.

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