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Vollblutpolitiker wie der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder (rechts) sind heute selten in der SPD. Auch EU-Parlamentspräsident Martin Schulz reicht da nicht ran.

© dpa

SPD: Sozial demolierte Partei Deutschlands

Die SPD hat sich auf fast allen Politikfeldern von ihren einstigen Stammwählern entfernt. Ein Weg zurück ist nicht erkennbar. Eine Analyse.

Mehr als ein Jahr vor der Bundestagswahl sinkt die Zustimmung für die SPD teilweise unter 25 Prozent. Zwar agiert sie derzeit in 13 Landesregierungen. Doch in Berlin verlor sie jüngst rund fünf Prozentpunkte.

Bei den jüngsten Landtagswahlen in Baden-Württemberg (rund 13 Prozent) und Sachsen-Anhalt (rund elf Prozent) landete sie nur auf dem vierten Platz. In beiden Ländern überholte die AfD die SPD. Gerade die Niederlage in Baden-Württemberg schmerzt die SPD, weil dort ihr bundesweit zweitgrößter Landesverband ist.

Wenn die SPD aber in bevölkerungsreichen Flächenländern kaum 20 Prozent erringt, fällt es ihr umso schwerer, bundesweit erfolgreich zu sein. Dafür reichen Erfolge in Stadtstaaten wie Hamburg und Bremen kaum. Bei der Landtagswahl in NRW im kommenden Mai könnte die SPD weiter zurückfallen. Entsprechend ist die Stimmung in der Partei. Viele Mandatsträger fürchten um ihre politische Zukunft.

Zu den vielen Gründen, warum die SPD schwächelt, gehört die gewachsene Zahl an Mitbewerbern. Inzwischen konkurriert die SPD nicht nur mit CDU, Grünen und Linkspartei, sondern verstärkt auch mit der AfD. Die Rechtspopulisten punkten gerade auch bei Arbeitern.

Die Sorgen und Nöte der Normalbürger interessieren immer weniger

Eine weitere Ursache, weshalb die SPD zunehmend ihren Status als Volkspartei verliert, ist ihre Distanz zu den Sorgen und Nöten von Normalbürgern. Gerade in den sozialen Souterrains der Gesellschaft findet die SPD immer weniger statt, insbesondere seit Oskar Lafontaines Rückzug. Das wütende Prekariat entfernt sich verstärkt von der SPD, die zunehmend zur Partei des öffentlichen Dienstes und von Akademikern mutiert. Aus Sicht vieler Normalbürger handelt es sich bei SPD-Funktionären um eine neue Art von abgehobener Oberschicht.

Seit der Schröder-Zeit schrumpft in Umfragen zugleich die SPD-Wirtschaftskompetenz, die für eine Volkspartei mitentscheidend für Wahlerfolge ist. Mit Umverteilungsplänen verschreckt die SPD daher gerade auch gut verdienende Facharbeiter, deren Zahl steigt – während die Zahl der klassischen Industriearbeiter sinkt (1950 rund 50 Prozent aller Erwerbstätigen).

Die Probleme der SPD häufen sich – höher als bei anderen Parteien. Seit 1998 hat die SPD auf Bundesebene zehn Millionen Wähler verloren. In den vergangenen 25 Jahren hat sie ebenfalls fast 50 Prozent ihrer Mitglieder eingebüßt. Zugleich sinkt ihre Präsenz und Aktivität im „vorpolitischen Raum“, zum Beispiel in freiwilligen Feuerwehren und Sportvereinen. Inzwischen sucht sie Landratskandidaten per Zeitungsannonce. In manchen Bundesländern ist sie kaum noch vertreten, etwa in Teilen Bayerns, Baden-Württembergs, Sachsens oder auch Thüringens, wo sie mittlerweile als Juniorpartner der Linkspartei fungiert.

Mehr als andere Parteien leidet sie unter schrumpfenden Milieus, die auch in schwierigen Zeiten Loyalität sichern. Viele SPD-Anhänger können kaum noch erkennen und erklären, wofür ihre Partei genau steht. Eine Partei ohne Seismograf und Kompass in bewegten Zeiten?

Es dominiert Gesinnungsethik

Oft bekämpfen die SPD-Flügel eher einander statt sich programmatisch konstruktiv zu ergänzen, wie es sich für eine Volkspartei gehört. In der Partei dominiert oft eher Gesinnungs- als Verantwortungsethik. Maßgebliche Teile der SPD beweisen häufig mehr Sinn für das Wünsch- als das Machbare. Von politischer Deutungshoheit und Meinungsführung hat sie sich weitgehend verabschiedet. Es gelingt ihr kaum, in zentralen Fragen die Debatte zu prägen. Das gilt besonders für das Thema Asyl.

Der Massenzuzug der vergangenen Monate beunruhigt insbesondere das SPD-Wählerpotenzial. Stärker als andere Teile der Gesellschaft konkurriert es mit Migranten etwa um Wohnraum und Arbeitsplätze. Sorgen und Ängste wegen des Massenzuzugs grassieren zum Beispiel bei Verkäuferinnen, Paketzustellern, Reinigungskräften, Busfahrern und Hilfsarbeitern. Vor allem auch kleine Leute und integrierte Migranten fordern, den Massenzuzug deutlich zu begrenzen und Probleme nicht zu ignorieren oder schönzureden, etwa den hohen Anteil an Langzeitarbeitslosen und Intensivtätern unter schlecht integrierten Migranten, sondern die Probleme (differenziert) anzupacken.

Bildungsdefizite sind oft in langjährig SPD-regierten Ländern ausgeprägter

Bereits heute sind Integrationsprobleme gerade auch in (langjährig) SPD-regierten Ländern oft besonders ausgeprägt, etwa Bildungsdefizite, Arbeitslosigkeit und Kriminalität von Migranten. Vor allem auch Kommunalpolitiker plädieren daher dafür, einerseits Sogfaktoren und Anreize zu mindern und Deutschland als Zielland für Asylbewerber unattraktiver zu machen. Andererseits gelte es, rechtskräftig abgelehnte Asylbewerber leichter abzuschieben – und das Asylrecht für wirklich Verfolgte zu sichern, die Unterstützung brauchen. Doch immer noch ist die Zahl der Abschiebungen in vielen SPD-regierten Ländern besonders gering.

Mehr denn je scheint die SPD heute tief gespalten zwischen „Multi-Kulti-Anhängern“ und eigenen Traditionswählern, die auch für Parolen der AfD empfänglich scheinen. Insgesamt meint in Umfragen nur eine kleine Minderheit, die SPD verfüge über ein Konzept, um den „Massenzuzug“ zu bewältigen.

Ebenfalls vernachlässigt die SPD seit Jahren den Kampf gegen Einbrüche, Diebstahl, Raub und rohe Gewalt. Hohe Kriminalität ist vielerorts nicht nur ein subjektives, sondern auch ein objektives Problem. Deshalb ist es bedeutsam, Bürger wirksam vor Verbrechen zu schützen. Das gehört zu den Hauptaufgaben einer Demokratie, gerade in einer zunehmend heterogenen Gesellschaft. Hier gilt es, haushaltspolitische Prioritäten zu setzen. Denn vor allem im schwachen Staat erklingen Rufe nach einem „starken Mann“. Gerade Schwache – Kinder, Frauen und Ältere – leiden, wenn der Staat im Kampf gegen Kriminelle Schwäche zeigt.

Die Mehrheit der Wähler traut der SPD in Sachen Sicherheit nicht allzu viel zu

Kleine Leute sind besonders betroffen. Denn während der Klinikchef abends nach dem Kinobesuch mit dem Taxi, seinem Auto oder seinem Fahrer nach Hause fährt, muss die normale Krankenschwester nach der Spätschicht den öffentlichen Nahverkehr nutzen oder zu Fuß beziehungsweise mit dem Fahrrad „Angsträume“ überwinden. Gegen das Recht des Stärkeren gilt es deshalb, die Stärke des Rechts durchzusetzen. Doch verzeichnen (langjährig) SPD-regierte Länder in der Polizeilichen Kriminalstatistik höhere Fallzahlen und niedrigere Aufklärungsquoten. Seit längerer Zeit hält auch die Wählermehrheit die SPD in Fragen der öffentlichen Sicherheit für wenig kompetent.

Im Kontrast zur Rhetorik vieler SPD-Funktionäre fürchtet sich die Mehrheit mehr vor (privaten) Verbrechern als vor einem „Überwachungsstaat“. Kampf gegen Kriminalität ist insgesamt kein Randthema, sondern ein Zentralthema der politischen Mitte, gerade in Zeiten wie diesen. Umso wichtiger ist es, Parallel- oder gar Gegengesellschaften zu verhindern.

Unsozial wirkt auch die Schuldenpolitik vieler (langjährig) SPD-regierter Länder. Denn von hohen Schulden profitieren vor allem Banken und Reiche, bei denen sich der Staat Geld leiht. Je höher die Schulden, desto weniger Geld bleibt, um Bedürftige zu unterstützen und in Bildung zu investieren. Dennoch überweist zum Beispiel NRW pro Jahr – trotz aktueller Niedrigzinsen – mehrere Milliarden Euro für den Schuldendienst an Banken. Wie viele Laptops für bedürftige Schüler und Stipendien für begabte Arbeiterkinder ließen sich damit finanzieren? Seit geraumer Zeit verzeichnen SPD-regierte Länder eine besonders hohe Pro-Kopf-Verschuldung und verschlechtern damit das Investitions- und Beschäftigungsklima zulasten gerade kleiner Leute.

Es mangelt an kampagnenfähigen Personen

Von der Rente mit 63 profitieren hingegen weit überwiegend Männer mit langen Beitragszeiten. Kleinrenten hingegen nun pauschal aufzustocken („Lebensleistungsrente“), hieße letztlich, auch solche Rentner besserzustellen, die durch ihren Partner bereits gut abgesichert sind oder über sonstige Einkommen verfügen, etwa aus Vermietung. Das wäre gerade auch deshalb fatal, weil langfristig durchaus mehr Altersarmut droht. Grundsätzlich scheint es daher sozialer, nur denen zu helfen, die Hilfe wirklich brauchen.

Von Realitätsferne zeugt schließlich die desolate Bildungspolitik von langjährig SPD-regierten Ländern („Pisa“), obwohl gerade Bildung sozialen Aufstieg fördert. Insgesamt erklärt in Umfragen nur eine kleine Minderheit, die SPD verfüge über überzeugende Konzepte, um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern.

Für einen Wahlerfolg auf Bundesebene mangelt es der SPD derzeit auch an kampagnenfähigem Personal. Nicht in Sicht scheint derzeit ein Vollblutpolitiker und Wahlkämpfer vom Format eines Gerhard Schröder, der sich einst kongenial mit Oskar Lafontaine ergänzte – bis 1999. Frank-Walter Steinmeier erringt in Umfragen zwar immer wieder gute Werte. Doch so wie Peer Steinbrück hat er als Spitzenkandidat noch nie eine Wahl gewonnen. Ein neuer Anlauf Steinmeiers als Kanzlerkandidat scheint daher nahezu ausgeschlossen, solange die SPD-Chancen auf einen Wahlsieg 2017 als gering gelten.

Andrea Nahles ist noch zu jung

Andrea Nahles wiederum scheint momentan noch zu jung, um zu kandidieren. Selbst aus Sicht vieler SPD-Genossen mangelt es ihr massiv an Kanzlerfähigkeit. Das muss aber nicht so bleiben. Derzeit sammelt sie Regierungserfahrung und führt das Ressort mit dem eindeutig höchsten Etat. Seit 2013 bemüht sie sich, durch Sacharbeit und kommunikative Disziplin, ihr Image zu verbessern. Bislang beweist sie als Ministerin immer wieder ihre besondere Durchsetzungsfähigkeit. Innerparteilich ist sie seit Juso-Zeiten ohnehin besser vernetzt als jedes andere SPD-Mitglied. Ein Scheitern der SPD-Kanzler-Ambitionen 2017 würde der flexiblen Nahles daher eher nutzen als schaden. Dasselbe gilt für Olaf Scholz.

Letztlich wird Sigmar Gabriel 2017 wohl antreten (müssen), obwohl seine Zustimmungswerte teilweise noch geringer ausfallen als die seiner Partei. Kandidieren wird er vor allem, um SPD-Chef zu bleiben. Um die SPD-Wahlchancen zu verbessern, arbeitet er unter anderem daran, die Wirtschaftskompetenz seiner Partei zu stärken. So kämpfte er etwa für das Freihandelsabkommen mit den USA, ebenfalls gegen heftige Widerstände in der SPD, denen er sich nun offenbar beugt. Nicht nur in dieser Frage führt eher die SPD Gabriel statt umgekehrt, obwohl politische Führung zum Anforderungsprofil eines Parteichefs gehört. Um Parteichef zu bleiben, wird er das SPD-Wahlergebnis von 2013 deutlich steigern müssen. Bislang hat auch Gabriel als Spitzenkandidat noch nie eine Wahl gewonnen. Durch seinen Rückschlag bei der jüngsten Wiederwahl zum Parteivorsitzenden mit nur 75 Prozent (ohne Gegenkandidaten) geht er zusätzlich geschwächt ins Rennen.

Die Öffnung für Rot-Rot-Grün führt auf Abwege

Weiter gelten die Grünen als bevorzugter Koalitionspartner der SPD, die mit der Ökopartei sowohl kooperiert als auch konkurriert. Weil es für Rot-Grün im Bund keine Mehrheiten gibt und weil die SPD ihrem Wählerpotenzial – anders als 2013 – auch eine realistische Koalitionsperspektive anbieten muss, hat sie sich bereits Ende 2013 per Parteibeschluss für die rot-rot-grüne Option geöffnet. Sie will vermeiden, wieder nur einen Vize-Kanzlerkandidaten aufstellen zu können. Ohne die Linke (oder die FDP) wird die SPD, wie es heute aussieht, keinen Kanzler stellen können.

Mit ihrer rot-rot-grünen Option verschreckt die SPD freilich viele ihrer „Mitte-Wähler“. Die Öffnung für Rot-Rot-Grün ähnelt daher strategisch einem Sprung ins Dunkle. Den wagt die SPD auch deshalb, weil sie fürchtet, Schwarz-Grün könnte zum Modell auch für den Bund mutieren. Die Grünen wiederum wollen vermeiden, auf Bundesebene zur Nichtregierungs-Organisation zu mutieren, wenn die SPD wieder abschmieren sollte.

Sollte es CDU und der Ökopartei tatsächlich gelingen, auch auf Bundesebene eine schwarz-grüne Koalition zu bilden und darin wirtschaftliche, soziale und ökologische Sensibilität zu verbinden, könnten sie die SPD damit strategisch an die Wand und längerfristig in die Opposition drücken. Das ist der Albtraum der SPD.

Harald Bergsdorf ist Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Extremismusforschung. Er hat mehrere Bücher zum Links- und Rechtspopulismus geschrieben. Als Referent war er für die CDU Thüringen und Nordrhein-Westfalen tätig (dieser Hinweis fehlte in einer früheren Version dieses Gastkommentars, wir bitten um Entschuldigung).

Harald Bergsdorf

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