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2012

© picture alliance / dpa

Spurensuche in Israel: Heiliges unheiliges Land

Das Leiden Israels ist das Leiden Palästinas. Gibt es ein Leben zwischen Checkpoints, Grenzwällen und Gewalt? Eine deutsche Spurensuche.

Ein Segelschiff schaukelt auf sanften blauen Wellen, über denen leuchtend die Sonne steht. Mittelmeer, ewig blau, starke Sonne, ewig goldener Schein. Das Bildchen steht auf einem Stuhl, angelehnt an die Rücklehne dient es als Modell. Als Hoffnung gegen die rote Betonwand dahinter.

Wo fängt das Unrecht an?

Mit Christi Kreuzigung? Mit der Zerstörung des Tempels? Oder mit judenfeindlichen Äußerungen im Neuen Testament? Mit den Kreuzzügen, die auf dem Weg ins Heilige Land eine unheilige Spur von Mord und Brandschatzung hinterließen? Mit dem Bestehen auf einem eigenen Gott, einer eigenen Religion, nur einem Volke vorbehalten? Oder mit der Rückkehr ins nie vergessene, „von Gotte verheißene“ Land, zu einer Zeit, als in Europa noch koloniale Vorstellungen herrschten und Nationalstaaten als gottgegeben angesehen wurden.

Wann hört das Unglück auf?

„Der Offizier sah aus wie viele, denen ich in Europa begegnet bin. Stattlich. Blond. Waren seine Eltern vielleicht einst aus Polen eingewandert?“, erzählte mir eine palästinensische Bekannte, als ich sie in ihrem Städtchen besuchte, nicht weit von Bethlehem, Beit Jala, wo heute noch christliche Palästinenser zu Hause sind. „Ich ging auf ihn zu, im Hintergrund alle unsere Freunde und Verwandten aufgereiht im Protest, um unseren Garten am Hang zu schützen, sie hielten den Atem an. Ich sprach ihn auf Hebräisch an: Warum wollen Sie unsere Obstbäume ausreißen, unseren Garten zerstören? Was haben wir Ihnen getan? Antwort: Befehl ist Befehl! Der Palästinenser auf dem Bulldozer erhielt die Order ,weitermachen’! Eine Schande! Einer der Unseren half unseren Weinberg zerstören! Wenn nicht er, dann ein anderer. Ich spuckte vor ihm aus. Er sah mich traurig an. Wenn nicht er, dann ein anderer. Sie suchen Arbeit, diese Familienväter mit vielen Kindern, Arbeit, die sie einst in Israel fanden. Wir alle Terroristen? Ohne Arbeit! Ich riss den Offizier wütend am Ärmel, schrie auf ihn voller Verzweiflung ein, er sah mich kalt an: ,Tränengas!’ befahl er – und wir alle flohen, ließen unseren Garten unbeschützt, preisgegeben Militär und Siedlern auf dem Berg. Am nächsten Tag bauten sie weiter an der Mauer. Die Weinreben, Olivenbäume, Granatapfelbäume streckten ihre ausgerissenen Wurzeln erbärmlich in die glühende Sonne. Mir tat das Herz weh. Wozu dies alles?“

Eine andere Szene: „Ich war zweieinhalb Jahre alt, als sie nachts kamen. Ein schwarzer glänzender Schaftstiefel stieß heftig an Mutters Herd, das Milchtöpfchen fiel um, da gab es eine hohe Flamme und es stank nach verbrannter Milch. Alles ging ganz schnell. Sie steckten uns unter schrecklichem Gebrüll in einen Zug, vier Tage und vier Nächte waren wir unterwegs mit vielen anderen Familien aus Baden, der Pfalz und dem Saarland.“ Dies las ich in einer Broschüre, erschienen zur Siebzig-Jahrfeier des berüchtigten Pyrenäenlagers Gurs. Eine Bekannte meiner israelischen Freundin hatte sie mir mitgebracht. Als elfjähriges Mannheimer Kind war sie mit ihren Eltern nach Gurs verschleppt worden. „Als der Zug nach tagelangem Hin- und Herrangieren, Weiterfahren, Stillstehen am uns unbekannten Ziel ankam, sprang ich heraus“, erzählte sie mir auf Französisch, „und verlor sofort meinen Schuh, der tief im Schlamm stecken blieb. Es war ja schon Regenzeit und der Lehmboden ist zäh.“ Auch der verfaulte Holzboden in den Baracken war schlammig, es gab keine Pritschen, keine Strohschütten, keine Decken, keinen Löffel, kein Gefäß, um am nächsten Morgen die stinkige Brühe, die sie Kaffee nannten, in Empfang zu nehmen. Spanische Frauen, Republikanerinnen, die nach Francos Sieg über die Pyrenäen nach Frankreich ins Land der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit geflohen waren – und prompt hinter Stacheldraht gesetzt wurden, in ein Lager, das sie selber aufbauen mussten –, diese Frauen halfen den gänzlich unvorbereiteten Frauen und Kindern aus Deutschland mit verbeulten Konservendosen aus. „Die Männer hatte man getrennt von uns in anderen Baracken untergebracht. So durfte jeder allein mit seinem grausamen Los fertig werden.“

Amira, heute über 80, ist nicht die einzige Überlebende, der ich auf dieser Reise begegnete, die ich nach ihrer Vergangenheit befragte. Denn in all den Jahren, in denen ich Israel besuchte, war mir stets eingeschärft worden, keine Fragen zu stellen, wenn meinen Augen zufällig auf eine am Unterarm eintätowierte Nummer fallen sollte. Man müsse sie schonen, die schrecklichen Erlebnisse in der Vergangenheit ruhen lassen. Viel zu spät ist auch in Israel die Erkenntnis gewachsen, für viele Opfer zu spät, dass die Befreiung nicht durch Verdrängung und Schweigen zu erreichen ist. Wie viele leben heute noch, die als Kinder, als Jugendliche die Herabwürdigung, die grenzenlose Hilflosigkeit ihrer Eltern miterlebten, von denen sie doch Zärtlichkeit und Schutz zu erwarten gelernt hatten.

Ihren Enkeln ist ein anderes Schicksal beschieden. Geschützt, so meinen sie und ihre Eltern, leben sie in einem starken Land, bis an die Zähne bewaffnet, um die zahlreichen Feinde abzuschrecken, die ringsum lauern, denen man nicht trauen darf, so meinen sie. Im Wohlstand leben sie, in einer hoch technisierten Welt, umgeben von immer neuen technischen Erfindungen, die ihr Leben so beherrschen, dass im Volk des Buches in vielen Familien kaum noch ein Buch zu sehen ist.

Kleine kräftige Bürschlein habe ich am Strand beobachtet, die sich bestens zwischen den gefährlichen Riffs auskannten, auf ihren Brettern geschickt ins weite offene Meer gelangten, auf den wilden Wellen ritten, eine ganze Armada surfender Wasserflöhe, gewissenhaft von Eltern oder Sportlehrern vom Strand her beobachtet, um ihnen im Fall eines Falles sogleich beizustehen. Welch fröhlicher, herzerweiternder Anblick! Ja, das Meer ist blau, so blau.

Doch vor meinen Augen sind all die anderen Kinder. Da hinten im verdorrten Land, in dem die Einwohner nicht nach Wasser bohren dürfen, dieses Herrenrecht ist den Siedlern auf den Hügeln vorbehalten, kein Hügel, der heute nicht von einer weiß glänzenden Masse Häuser, von Betongebirgen verdeckt ist. Wie Schlangen ziehen sich die schwarz asphaltierten Straßen dort hinauf, die Täler, die Wadis sind durchfurcht von Unterführungen, Tunneln, Überführungen, auf hohen Stelzen wie unsere Autobahnen in Europa. Doch anders als wir es gewohnt sind, stehen diese Straßen nicht allen ohne Unterschied zur Verfügung. Hier gibt es Exklusivrechte im Namen der Sicherheit, nur wer ein entsprechendes Nummernschild hat, darf sie benutzen. Die Einheimischen, die in ihrer Sturheit noch immer nicht ihr Land verlassen haben, können sehen, wie sie mit den alten, ungewarteten Wegen zurechtkommen.

Da hinten, auf der Westbank, dem Land westlich des Jordan, das seit über 40 Jahren von Israel besetzt ist – auch zuvor war es nicht frei, da hatten es die Jordanier von Amman aus regiert, und zuvor die Engländer und davor die Türken oder sagen wir lieber die Osmanen: Da leben all die Kinder, die noch nie das Meer sahen. Sie leben auf einem Boden, der einst als Faustpfand für den ersehnten Frieden betrachtet wurde, doch das ist lang vorbei. Salomons Teiche, die Gräber der Patriarchen, Rachels Grab – mit welcher Begeisterung strömten damals, nach dem Sechstagekrieg, im Juni/Juli 1967 die Menschen aus dem kleinen, eingeschlossenen Land in die soeben eroberten besetzten Gebiete. Auch ich, gemeinsam mit meiner israelischen Freundin, wurde in diesen Taumel gerissen, Weinreben wurden niedergetrampelt, Zäune umgelegt, Taxireisen organisiert: endlich Zugang zu den heiligen Stätten, zu den verschlossenen touristischen und/oder heiligen Sehenswürdigkeiten! Ein Faustpfand für den Frieden? Das war einmal.

„Unser, unser, unser! Gott hat uns das Land versprochen!“ Und Gott sollte keine Gegenleistung gefordert haben? Zumindest die Einhaltung seiner Gebote? Und seien es nur zehn, wer spricht gleich von sechshundert und dreizehn Geboten und Verboten! „Wer gibt denn freiwillig auf, was man siegreich erobert hat, das hat es noch nie in der Geschichte gegeben! Sieger bleiben Sieger – dies hier ist unser Land, das Gott uns vor Jahrtausenden zugesprochen hat. Wer das nicht anerkennt, wer sich wehrt: der ist ein Terrorist. Die Kinder? Kinder von Terroristen. Nun, gewiss nicht alle, doch wie soll man wissen, wer ja und wer nein?“

Wie Raubtiere lässt man sie durch Gittergänge gehen. Zuvor, am Eingang zur Trutzburg, eine Aufforderung auf Arabisch, Israelisch und Englisch, diesen Ort sauber zu halten! Kein Abfall auf den Boden, ein zivilisiertes Volk legt Wert auf Sauberkeit und Ordnung! Oder man lässt sie absichtlich viele Stunden wartend stehen? Wann sonst könnten Männer in der arabischen Gesellschaft so unverhohlen Berührungskontakt zu einer Frau bekommen, wenn es nicht die eigene ist? An die Löwengitter im Zirkus wurde ich erinnert, an den Zirkus Sarrasani meiner Kindheit, wenn Löwen oder Leoparden majestätisch schreitend ins Zirkusrund geführt wurden, Spannung, Furcht und Gruselgefühle einander ablösten. Freilich gab es keine drohenden Wachttürme aus Beton, trutzigen Ritterburgen ähnlich, stattdessen, umrahmt von Samtvorhängen, auf einer Empore das Orchester mit seinem befrackten Dirigenten. Tief beschämt war ich, die Ausländerin mit einem westlichen Pass, als ich in weniger als einer Minute auf der anderen Seite einreisen durfte. Verdächtig alle? Terroristen alle? Wie stehen Sie, liebe Leser, zur Kollektivschuld? Einst, die Großeltern, nichts gewusst, nichts gesehen, nichts gehört? Bundespräsident Joachim Gauck hat sich gerade auf seiner Reise selbstverständlich zur deutschen Verantwortung gegenüber dem Staat Israel bekannt. Das aber, und das ist neu, nicht ohne dabei die Palästinenserfrage außer Acht zu lassen und auch die palästinensischen Autonomiegebiete zu besuchen.

Rabbi Hillel, ein Weiser aus dem ersten Jahrhundert vorchristlicher Zeitrechnung, wiederholte eindringlich, was bereits im dritten Buch Mose, Kapitel 19, Vers 18 geschrieben steht: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Rabbi Hillel sagte es so: Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht – dieses ist die ganze Thora.

Sollte es die ewig wachzuhaltende Erinnerung an den Holocaust sein, die dieses hohe Gebot verdrängt hat, Rechtfertigung für ein Verhalten schuf, das gefährlich nahe an die verruchten Taten der einstigen Verfolger führt? Dazu bedarf es keiner Lager, weder Konzentrations- noch Vernichtungslager, es reicht die menschenverachtende, demütigende Behandlung der Minderheit im eigenen Land wie der Bevölkerung im noch immer besetzten Westjordanland: Verdrängt sind die ethischen Grundsätze, die die Stärke des jüdischen Volkes über Jahrtausende bildeten.

Das Bild vom Segelschiff auf blauen Meereswellen ist ein unerreichbarer Traum. Die rohe Betonwand dahinter ist acht Meter hoch, Teil eines dreiviertelrunden Betonkranzes, der den Tunneleingang einer Siedlerautobahn schützt. Das Haus, das sich in den Weg stellte, nur wenige Meter von der Betonmauer entfernt, hat überlebt. Nicht die Ölbäume, nicht der Garten, Zerstörung, wohin das Auge schaut. Die Bewohner durften bleiben, ein Schild warnt sie, auch hier in drei Sprachen, vor dem Abgrund zu ihren Füßen. Welch ein Hohn! Doch die Gesetze müssen erfüllt werden. Dort unten liegen die verdorrten, ausgerissenen Ölbäume. Die Luft dröhnt von den in den Tunnel einfahrenden Siedlerautos.

Amira hat überlebt. Doch sie erlebte alle Schrecken des Lagers. Den Niedergang der Eltern, Hunger, Schmutz, Ungeziefer, die daraus erwachsenden Krankheiten, Krätze, Typhus, Ruhr. Als sie im Lager Rivesaltes – ein hübsches Weindorf nahe dem Mittelmeer, in ganz Frankreich für seinen würzig-süßen Aperitivwein berühmt – ankamen, diesmal bereits in Viehwagen transportiert, lief die schlimme Brühe unaufhaltsam aus der Mutter. Die Elfjährige versuchte die Mutter zu pflegen, die beim Aussteigen ohnmächtig zusammengebrochen war: mit nichts zu pflegen. Kein Wasser, kein Lappen, kein gar nichts. Ein Spanier pinkelte auf die Mutter, „da hast du was Flüssiges!“

Gegen ihren Willen wurde Amira gerettet. Als Rotkreuzschwestern verkleidete Jüdinnen in der französischen Résistance holten sie aus dem Zug nach Drancy, dem Lager bei Paris, das die Opfer für die Vernichtungslager im Osten sammelte, ehe es in den Tod ging. Ihre Eltern überlebten Auschwitz nicht. Das Kind gelangte schließlich in die Schweiz, von dort 1945 über ein Auswandererlager nach Eretz/Israel, ins Land ihrer Sehnsucht. Andere nannten es Palästina, das vom Völkerbund den Briten anvertraute Mandatsgebiet. Man schickte das junge Mädchen in einen Kibbutz an der libanesischen Grenze, den sie mit aufbauen half. In dem lebt sie bis heute. Da ist ihre Welt. Doch im Grunde hat sie die alte, böse Welt nie verlassen und vergessen können. Ob sie die Palästinenser wahrnimmt, ihr Schicksal sie berührt? Wer weiß es. Ich wagte nicht, die alte Amira zu fragen, die in ihren Schilderungen so versunken ist in der Geborgenheit des Elternhauses, als die Eltern den Mittelpunkt ihres Kinderlebens bildeten.

An den großen Friedensdemonstrationen in Tel Aviv, die nun auch schon weit zurückliegen, haben ihr Kibbutz und auch sie selbst teilgenommen, das habe ich von meiner Freundin erfahren. Doch heute lebt man hier im Kernland in einer andern Welt, die sich so verfestigt hat, die ihnen allen so selbstverständlich über die letzten 60 Jahre wurde, da sind die Ruinen der arabischen Dörfer zur dekorativen Ausschmückung von Feriendörfern am Meer geworden oder gänzlich verschwunden. Ausgelöscht. Neue Siedlungen wuchsen auf ihnen, wie seit jeher in der Menschheitsgeschichte.

Wann wird man diese hier wieder ausgraben, unter neuen Schuttbergen eines Tages entdecken? Oder wird dieses konfliktbeladene Land doch noch zu einer friedlichen Lösung finden?

Von der Autorin ist 2008 im Verlag für Berlin-Brandenburg „Warum seid Ihr nicht ausgewandert? Vom Überleben in Berlin 1933 – 45“ erschienen.

Irène Alenfeld

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