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Die Zeit der Ausgangssperre: Die Uhr am Verkehrsturm am Potsdamer Platz zeigt 21:00 Uhr.

© Christoph Soeder/dpa

Staats- und Verfassungsrechtler analysieren: Ist die Ausgangssperre gegen Corona verfassungswidrig?

Am Mittwoch soll das Infektionsschutzgesetz vom Bundestag beschlossen werden. Darin verankert: Bundesweite Ausgangsbeschränkungen – die höchst umstritten sind.

Am Mittwoch wird es ernst: Dann soll das neue Infektionsschutzgesetz zunächst vom Bundestag beschlossen werden. Einen Tag später ist der Bundesrat dran. Im Gesetz verankert sind Ausgangssperren zwischen 22 und 5 Uhr, wenn die Sieben-Tage-Inzidenz der Neuinfektionen über 100 steigt.

Das Problem: Die nächtliche Ausgangsbeschränkung, wie es sie beispielsweise in Brandenburg in Regionen mit hohen Infektionszahlen bereits gibt, verstößt nach Ansicht von Staats- und Verfassungsrechtler gegen das Grundgesetz.

Anna Katharina Mangold ist Verfassungsrechtlerin und erkennt bei der geplanten bundesweiten Ausgangssperre gleich mehrere verletzte Grundrechte. Mit dieser Auffassung steht die Juristin nicht alleine dar. Staatsrechtlers Thorsten Ingo Schmidt aus Potsdam pflichtet ihr bei und sagt: „Das ist ein schwerwiegender Eingriff und er ist verfassungswidrig.“

Die Ausgangsbeschränkung zwischen 22 Uhr und 5 Uhr für einen Landkreis oder eine kreisfreie Stadt mit einer Sieben-Tage-Inzidenz über 100 greife jedoch laut Schmidt in die Freiheit der Person nach Artikel 2 und in die Freizügigkeit nach Artikel 11 ein sowie in die allgemeine Handlungsfreiheit nach Artikel 2, erklärt der Potsdamer Wissenschaftler.

Und das, obwohl es Ausnahmen geben soll: Unter anderem für Arztbesuche und die Versorgung von Pflegebedürftigen und für „ähnlich gewichtige und unabweisbare Gründe“. Allein draußen spazieren zu gehen oder Sport zu treiben, soll bis Mitternacht möglich sein.

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Verfassungsrechtlerin Mangold betonte am Dienstag bei einer Veranstaltung der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), in deren Auftrag sie ein Gutachten zur Ausgangssperre erstellt hatte, dass der Staat sich für Eingriffe in die Grundrechte rechtfertigen müsse, nicht etwa die Bürger für die Ausübung ihrer Rechte. Die GFF bereitet nun den Gang vor das Bundesverfassungsgericht für den Fall vor, dass die Maßnahme unverändert beschlossen wird.

Brandenburg verteidigt Ausgangsbeschränkungen

Die Kenia-Koalition in Brandenburg sieht das alles etwas anders und verteidigte hingegen das Instrument. Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) hatte am Samstag durchaus von einem schweren Eingriff in die Grundrechte gesprochen. Diesen Eingriff nehme man aber nur deshalb vor, „weil aus unserer Sicht es wichtig ist, die Infektionsdynamik zu bremsen“, sagte er.

SPD-Landtagsfraktionschef Erik Stohn betonte, es gehe darum, Mobilität und Kontakte einzuschränken. „Dazu ist es auch wissenschaftlichen Studien zufolge eine geeignete Maßnahme.“

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Der Jurist Schmidt indes begründete seine Bedenken. „Eigentlich läuft es darauf hinaus, dass man sich von 22 Uhr bis 5 Uhr zuhause aufzuhalten hat“, sagte er. „Das kann zwar schon mit dem Gesundheitsschutz begründet werden, nur dann muss der Eingriff geeignet, erforderlich und angemessen sein.“

Die Wirkung sei allerdings, dass es zu Verlagerungseffekten kommen werde, zum Beispiel, wenn alle um 21 Uhr einen Spaziergang machen wollten. „Das kann sogar kontraproduktiv sein, das heißt, es gibt mehr Kontakte tagsüber. Sie werden um Mitternacht weniger Leute draußen treffen als um 12 Uhr mittags“, sagte Schmidt. „Ich habe schon erhebliche Zweifel, ob die Maßnahme überhaupt geeignet ist.“

Die Ausgangsbeschränkung geht nach seiner Einschätzung „am Ziel vorbei“. Die Gefahr für Infektionen bestehe nicht, wenn ein einsamer Spaziergänger unterwegs sei. „Die Gefahr sind private Treffen“, sagte Schmidt. „Meines Erachtens bringt die Ausgangsbeschränkung sogar deutliche Nachteile und ist unangemessen. Hier wird ein Automatismus verhängt ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100, völlig unabhängig von der Auslastung der Intensivbetten.“

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Anna Katharina Mangold sieht gerade in den Ausnahmen der Ausgangssperre ein Problem. Das Instrument sei nicht bestimmt genug. Bürger müssten im Vorfeld wissen, ob sie möglicherweise gegen das Gesetz verstießen. Sonst habe die Polizei die Entscheidungsgewalt, und es sei nicht absehbar, ob diese individuelle Gründe anerkenne oder stattdessen ein Bußgeld verhänge.

Regulierung des Arbeitslebens wäre effektiver

Es handle sich um eine weitere „höchst invasive“ Regulierung des Privatlebens, sagte die Professorin an der Universität Flensburg. Dagegen sei das Arbeitsleben kaum reguliert. Eine bessere Regulierung des Arbeitslebens wäre aber weniger invasiv und dabei voraussichtlich ungleich effektiver.

Eine Ausgangssperre wäre ihrer Meinung nach für kurze Zeit als Teil eines „höchst effektiven Gesamtkonzepts“ durchaus denkbar, sagte Mangold. Dabei müsste es aber darum gehen, die Inzidenz massiv nach unten zu bringen.

[Mehr zum Thema: Antisemitismus auf Corona-Demos – „Wir erleben gerade einen Radikalisierungsprozess“ (T+)]

„Durch das Ziel einer dauerhaften Kontrolle der Corona-Pandemie würde der eigentliche Lockdown zudem nach überschaubarer Zeit enden, was beim aktuell geplanten Jojo-Lockdown gerade nicht zu erwarten steht“, schreibt sie in ihrem Gutachten. Das gegenwärtige Konzept verfolge lediglich das Ziel, die Inzidenz für wenige Tage unter 100 zu drücken.

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Die GFF kritisierte vor allem eine fehlende Ausgewogenheit in den Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung. Seit einem Jahr verhängten Bund und Länder massive Grundrechtseingriffe im Privaten, aber kaum effektive Maßnahmen zum Schutz vor Infektionen in der Arbeitswelt, teilte der Verein mit.

Sollte die Notbremse so beschlossen werden, werde die GFF dagegen vorgehen, sagte ihr Vorsitzender Ulf Buermeyer. Noch sei die GFF im „Prozess der Entscheidung, welche Mittel wir ausschöpfen“. Möglicherweise werde auch zweigleisig gefahren und sowohl vor einem Verwaltungsgericht als auch vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt.

Buermeyer betonte, dass die GFF ausdrücklich hinter der Bekämpfung der Pandemie stehe. Damit werde insbesondere das Grundrecht auf Leben und Gesundheit geschützt. Die Grenzen der Verfassung müssten aber eingehalten werden.

Staatsrechtlers Thorsten Ingo Schmidt macht aber noch einen Pluspunkt aus. Den stelle dar, dass die Maßnahmen nur in einzelnen Kreisen und kreisfreien Städten greifen. „Das ist grundrechtsschonender als flächendeckend im ganzen Land.“

Kritische Stimmen auch aus Berlin

Auch in Berlin sieht man die nächtliche Ausgangssperren weiterhin kritisch. Bei der Senatssitzung am Dienstag habe es eine Diskussion über die beabsichtigten Regelungen des Bundes gegeben, sagte der Senator für Stadtentwicklung und Wohnen, Sebastian Scheel (Linke), im Anschluss. Beim Thema Ausgangssperre gebe es weiter Zweifel: „Wir sind skeptisch, ob eine solche allgemeine Ausgangsbeschränkung aufgrund eines Inzidenzwerts in der jetzigen Situation rechtlich haltbar ist“, sagte Scheel. Aber die Debatten liefen noch. Man werde sehen, mit welchem Ergebnis.

Die Berliner Bedenken würden aktuell in die Diskussionsrunden zwischen Bund und Ländern eingebracht, so der Senator. Der Regierende Bürgermeister, Michael Müller (SPD) habe vor, im Bundesrat als Chef der Ministerpräsidentenkonferenz zu dem Thema zu sprechen. „Wir brauchen jetzt Klarheit“, betonte Scheel.

Bundesärztekammer begrüßt bundesweites Infektionsschutzgesetz

Der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Klaus Reinhardt, unterstützt das Vorhaben der Bundesregierung. Ziel müsse es sein, die Intensivstationen in den Krankenhäusern schnellstmöglich zu entlasten und weitere Todesfälle zu verhindern, erklärte Reinhardt am Dienstag in Berlin mit Blick auf den Gesetzentwurf zum Infektionsschutzgesetz.

Es bestehe derzeit die Gefahr, dass die Intensivstationen der Krankenhäuser an die Belastungsgrenze stießen, erläuterte der Ärztekammer-Chef. Davon betroffen seien nicht nur Corona-Patienten, sondern auch Patienten mit anderen schweren Erkrankungen, die Intensivbehandlung und Beatmung benötigten oder deren Operationen verschoben werden müssten.

Kritisch äußerte sich Reinhardt aber zur geplanten Ausgangssperre. Übertragungen im Freien seien nur sehr selten; der Aufenthalt im Freien sollte deshalb nicht ohne Not erschwert werden. Ob eine Ausgangssperre sinnvoll und notwendig sei, hänge maßgeblich davon ab, ob sie riskante Zusammenkünfte der Menschen in Innenräumen verhindern könne. (AFP, dpa, KNA)

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