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Staatsbürgerschaft: Viel mehr Türken könnten Deutsche sein

Tausende Türken hätten einen Anspruch auf die hiesige Staatsbürgerschaft. Nur wissen sie es nicht. Und niemand weist sie darauf hin.

Die Einbürgerungszahlen sind auch im letzten Jahr wieder zurückgegangen. Auch wenn noch nicht alle Länder ihre Zahlen vorgelegt haben, dürfte sich der Trend eher stabilisieren. Womöglich allerdings gibt es ein paar tausend Deutsche mehr, als die Statistik weiß. Etliche Kinder hier lebender türkischer Eltern nämlich müssten die Staatsbürgerschaft gar nicht erst verliehen bekommen. Sie haben sie längst – aber sie wissen nichts davon, ebenso wenig wie die Behörden.

Der Grund dafür ist ein Knäuel von Bestimmungen zwischen nationalem und EU-Recht. Seit zehn Jahren sind in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern unter bestimmten Bedingungen automatisch Deutsche. Zentrale Bedingung ist, dass ihre Eltern ein unbefristetes Aufenthaltsrecht haben. Das haben nach einem europäischen Abkommen mit der Türkei faktisch auch türkische Staatsbürger, die eigentlich nur eine Aufenthaltserlaubnis auf Zeit bekommen. Grund dafür sind die Artikel sechs und sieben des Beschlusses Nummer 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei. Der Beschluss klärte, nach dem Assoziationsabkommen mit der Türkei von 1963, das den Beitritt des Landes zur Gemeinschaft vorbereiten sollte, den Rechtsstatus türkischer Arbeitsmigranten – Studenten eingeschlossen – und ihrer Angehörigen und gab ihnen ähnliche Rechte wie EU-Staatsbürgern. Angehörige, also Ehepartner oder Kinder eines solchen Arbeitsmigranten, erhalten demnach schon nach drei Jahren Zusammenlebens mit ihm ein Aufenthaltsrecht, das sich nicht mehr beenden lässt – also jenen Aufenthaltsstatus, der seit dem 2007 novellierten Staatsangehörigkeitsgesetz auch ein Recht auf Einbürgerung gibt. „Für diese Angehörigen“, sagt der Hamburger Anwalt Ünal Zeran, der solche Fälle aus seiner Praxis kennt, „würden dann auch die Sprachanforderungen bei einer Entscheidung über das Aufenthaltsrecht oder der Nachweis über eigenen Lebensunterhalt nicht mehr gelten. Das mag man integrationspolitisch für problematisch halten, aber so ist die Rechtslage nun einmal.“ Für die Bundesregierung sei das „gerade in Krisenzeiten natürlich heikel“.

Oder es wäre heikel. Denn tatsächlich wissen die Betroffenen oder ihre Eltern gar nichts von ihrer deutschen Staatsangehörigkeit. Leider weiß man es in den Standesämtern auch nicht – kein Formblatt weist darauf hin. Ergebnis: In Deutschland geborene Kinder solcher türkischer Eltern sind zwar von Rechts wegen Deutsche, werden es aber unter Umständen faktisch nie, weil sie und ihre Eltern ihr Recht gar nicht kennen. Anders die hier geborenen sogenannten „Optionskinder“ ausländischer Eltern mit unbefristetem Aufenthaltsrecht: Sie bekommen inzwischen von den Behörden Post, um sie darauf hinzuweisen, dass sie sich bis zum 23. Lebensjahr entscheiden müssen, ob sie Deutsche bleiben oder die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern behalten wollen. Rechtsanwalt Zeran wundert die Ahnungslosigkeit der Ämter kaum: „Es gibt inzwischen 44 verschiedene Aufenthaltstitel. Wie soll das ein Standesamt überblicken, wenn es schon die Ausländerbehörden nicht schaffen?“

Sevim Dagdelen, migrationspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, hatte die Regierung in einer Kleinen Anfrage mit dem Problem konfrontiert. Antwort: Man sehe „derzeit keinen Handlungsbedarf“. Ohnehin habe man „keine Kenntnis von konkreten Fällen“, heißt es, auch wenn man Fälle unentdeckter deutscher Staatsangehörigkeit „nicht völlig“ ausschließen könne. Außerdem hätten die Länder ja schon die Anwendungshinweise zum Staatsangehörigkeitsgesetz aus Berlin bekommen. Dass die das Problem nicht lösen, haben Baden-Württemberg und Hamburg indirekt bestätigt: Beide Länder haben ihrerseits ergänzende Richtlinien an ihre Behörden gegeben. Die Untätigkeit des Bundes ist gepaart mit Unkenntnis: Das Ausländerzentralregister hat, wie aus der Auskunft des Innenministeriums ebenfalls hervorgeht, den Fall der EU-Berechtigungen einfach nicht vorgesehen. Es zählt sie nicht.

Die Linken-Abgeordnete Dagdelen spricht von Skandal und erinnert an die Aufregung um eingebürgerte Türkischstämmige, denen wegen ihrer doppelten Staatsbürgerschaft die deutsche wieder aberkannt wurde. Damals, sagt Dagdelen, „wurden zehntausende eingebürgerte Deutsche türkischer Herkunft angeschrieben“. Bei der umgekehrten Feststellung aber sei die Bundesregierung nicht einmal bereit, ein Formblatt zu ändern.

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